BAG – 4 ABR 29/19

ECLI:DE:BAG:2020:130520.B.4ABR29.19.0
NZA 2020, 1258   

Zustimmungsersetzung – Umgruppierung – Zuordnung zu Gehalts- und Lohngruppen

Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 13.05.2020, 4 ABR 29/19

Tenor

  1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 12. August 2019 – 8 TaBV 19/19 – aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur neuen Anhörung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

4 ABR 29/19 > Rn 1

A. Die Beteiligten streiten über die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur Umgruppierung eines Arbeitnehmers.

4 ABR 29/19 > Rn 2

Die Arbeitgeberin, Mitglied im Handelsverband Niedersachsen-Bremen, betreibt ein Einzelhandelsunternehmen mit zahlreichen Standorten, darunter einem Betrieb in B.

4 ABR 29/19 > Rn 3

Mit Schreiben vom 22. November 2017 ersuchte die Arbeitgeberin den dort gebildeten Betriebsrat um Zustimmung zur „Einstellung“ des – bereits seit dem Jahr 2012 bei ihr beschäftigten und bis zum 30. November 2017 auf einer anderen Stelle tätigen – Arbeitnehmers L ab dem 1. Dezember 2017 für den Bereich „Food“ sowie zur beabsichtigten „Eingruppierung“ in die Lohngruppe II Lohnstaffel b) des Gehalts- und Lohntarifvertrags für den Einzelhandel in Niedersachsen (GLTV).

4 ABR 29/19 > Rn 4

Der Betriebsrat stimmte mit Schreiben vom 27. November 2017, welches der Arbeitgeberin am selben Tag zuging, der beabsichtigten „Einstellung“, nicht aber der „Eingruppierung“ zu. Einschlägig sei die Gehaltsgruppe II GLTV.

4 ABR 29/19 > Rn 5

Die Arbeitgeberin hat die Auffassung vertreten, dem Arbeitnehmer seien ganz überwiegend schwere körperliche Arbeiten im Bereich „Food“, welcher das Bistro, den sog. Schwedenshop, das Kunden- und das Mitarbeiterrestaurant umfasst, sowie Tätigkeiten im Bereich der Warenverräumung übertragen.

4 ABR 29/19 > Rn 6

Die Antragstellerin hat – soweit für die Rechtsbeschwerde von Bedeutung – beantragt,

die vom Betriebsrat verweigerte Zustimmung zur Eingruppierung des Arbeitnehmers L ab dem 1. Dezember 2017 in die Lohngruppe II Lohnstaffel b) nach Maßgabe des § 5 des Gehalts- und Lohntarifvertrages für den niedersächsischen Einzelhandel zu ersetzen.

4 ABR 29/19 > Rn 7

Der Betriebsrat hat beantragt, den Antrag abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, die dem Arbeitnehmer übertragene Tätigkeit sei dem kaufmännischen Bereich zuzuordnen. Er werde im Bereich „Food“ überwiegend mit Kassiertätigkeiten einschließlich der dazu gehörenden Vor- und Nacharbeiten sowie im Verkauf beschäftigt. Die Tätigkeit in der Warenannahme erschöpfe sich nicht in schwerer körperlicher Arbeit, sondern umfasse auch das Ausfüllen von Bestellscheinen, den Umgang mit Lieferanten und die allgemeine Bestellabwicklung.

4 ABR 29/19 > Rn 8

Das Arbeitsgericht hat den ursprünglich als Hauptantrag gestellten Feststellungsantrag der Arbeitgeberin, dem Betriebsrat stehe hinsichtlich der hier streitigen personellen Einzelmaßnahme kein Zustimmungsrecht nach § 99 Abs. 1 BetrVG zu, abgewiesen und deren hilfsweise erhobenem Zustimmungsersetzungsantrag stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die dagegen gerichtete Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt der Betriebsrat weiterhin die Abweisung des Zustimmungsersetzungsantrags.

4 ABR 29/19 > Rn 9

B. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Landesarbeitsgericht durfte die Beschwerde des Betriebsrats nicht mit der gegebenen Begründung zurückweisen. Ob der Betriebsrat seine Zustimmung zu Unrecht verweigert hat, kann der Senat nicht abschließend entscheiden, weil es hierfür an den erforderlichen Feststellungen fehlt. Das führt zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung (§ 96 Abs. 1 Satz 2 ArbGG iVm. § 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Anhörung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht (§ 96 Abs. 1 Satz 2 ArbGG iVm. § 563 Abs. 1 ZPO).

4 ABR 29/19 > Rn 10

I. Der Zustimmungsersetzungsantrag ist nach gebotener Auslegung zulässig.

4 ABR 29/19 > Rn 11

1. Das Begehren der Arbeitgeberin ist entgegen dem Antragswortlaut auf die Zustimmungsersetzung zur Umgruppierung des Arbeitnehmers gerichtet. Bei der Zuordnung der Tätigkeit des Arbeitnehmers zur Lohngruppe II Lohnstaffel b) GLTV handelt es sich – entgegen der Annahme der Betriebsparteien – nicht um eine gem. § 99 Abs. 1 BetrVG mitbestimmungspflichtige Eingruppierung, sondern um eine Umgruppierung. Eine Eingruppierung iSv. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist die Einreihung eines Arbeitnehmers in eine betriebliche Vergütungsordnung. Eine Umgruppierung ist jede Änderung dieser Einreihung. Über eine solche muss der Arbeitgeber ua. – wie hier – beim Wechsel der einem Arbeitnehmer zugewiesenen Arbeitsaufgaben entscheiden (BAG 13. November 2019 – 4 ABR 3/19 – Rn. 17 mwN).

4 ABR 29/19 > Rn 12

2. Dem im Antrag angegebenen Datum „ab dem 1. Dezember 2017“ kommt keine eigenständige Bedeutung zu. Es drückt kein – in dem zukunftsbezogenen Zustimmungsersetzungsverfahren unzulässiges – Begehren aus, die Zustimmung des Betriebsrats mit Rückwirkung zu ersetzen (vgl. BAG 9. März 2011 – 7 ABR 127/09 – Rn. 15). Das im Antrag genannte Datum bezeichnet lediglich den Zeitpunkt, ab dem der Arbeitnehmer aus Sicht der Arbeitgeberin nach der Lohngruppe II Lohnstaffel b) GLTV zu vergüten ist.

4 ABR 29/19 > Rn 13

3. Der so verstandene Antrag der Arbeitgeberin ist zulässig, insbesondere ist er hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Er bezieht sich mangels gegenteiliger Anhaltspunkte nicht nur auf den zum Zeitpunkt des Zustimmungsersuchens und des Antragseingangs einschlägigen GLTV (Fassung vom 2. August 2017), sondern auf die jeweilige Fassung und damit auch auf diejenige vom 18. Juli 2019. Ein solches Verständnis ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn sich – wie vorliegend – durch den Neuabschluss eines Tarifvertrags das maßgebliche tarifliche Vergütungsschema nicht geändert hat (BAG 21. März 2018 – 7 ABR 38/16 – Rn. 14).

4 ABR 29/19 > Rn 14

II. Die tarifliche Bewertung der dem Arbeitnehmer übertragenen Tätigkeit durch das Landesarbeitsgericht, die zugleich das Zustimmungsersetzungsbegehren bestimmt, ist nicht frei von Rechtsfehlern.

4 ABR 29/19 > Rn 15

1. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, bei der beabsichtigten Maßnahme handele es sich um eine mitbestimmungspflichtige Angelegenheit. Das steht aufgrund des insoweit rechtskräftigen erstinstanzlichen Beschlusses des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 23. Januar 2019 – 1 BV 22/17 – fest (zur Rechtskraftwirkung einer negativen Feststellungsklage sh. BAG 29. August 2013 – 2 AZR 273/12 – Rn. 22 mwN). Die Entscheidung über die für den noch streitgegenständlichen Antrag entscheidungserhebliche Vorfrage der Mitbestimmungspflichtigkeit der personellen Einzelmaßnahme nach § 99 Abs. 1 BetrVG entfaltet für das weitere Beschlussverfahren der beiden Beteiligten präjudizielle Bindungswirkung (vgl. BAG 13. März 2013 – 7 ABR 69/11 – Rn. 15 mwN, BAGE 144, 340).

4 ABR 29/19 > Rn 16

2. Ferner ist das Beschwerdegericht nach seinen Feststellungen zutreffend davon ausgegangen, dass die Arbeitgeberin den Betriebsrat mit Schreiben vom 22. November 2017 ordnungsgemäß unterrichtet (§ 99 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 BetrVG) und der Betriebsrat die Zustimmung zur beabsichtigten Eingruppierung mit Schreiben vom 27. November 2017 form- und fristgerecht verweigert hat (§ 99 Abs. 2 und Abs. 3 BetrVG).

4 ABR 29/19 > Rn 17

3. Das Landesarbeitsgericht hat jedoch das Entgeltschema des GLTV nicht rechtsfehlerfrei angewandt. Entgegen seiner Auffassung gebietet dieses vor der Eingruppierung eines Arbeitnehmers in eine bestimmte Gehalts- oder Lohngruppe nicht die Prüfung, ob jener der Gruppe der Angestellten oder der gewerblichen Arbeitnehmer zuzuordnen ist. Das ergibt die Auslegung des Tarifvertrags (zu den Maßstäben der Tarifauslegung sh. zB BAG 20. Juni 2018 – 4 AZR 339/17 – Rn. 19).

4 ABR 29/19 > Rn 18

a) Die für die Eingruppierung maßgebenden tariflichen Regelungen sind im Manteltarifvertrag für den Einzelhandel in Niedersachsen vom 24. Februar 2014 (MTV) und im GLTV vom 18. Juli 2019 enthalten.

4 ABR 29/19 > Rn 19

aa) Der MTV lautet auszugsweise:

㤠6

Gehalts- und Lohnregelung

1. Die Festsetzung der Gehälter und Löhne erfolgt in besonderen tarifvertraglichen Regelungen.

2. Für die Eingruppierung der Beschäftigten kommt es auf die tatsächlich verrichtete Tätigkeit an. …“

 

4 ABR 29/19 > Rn 20

bb) Der GLTV regelt ua.:

„§ 1

Geltungsbereich

persönlich:
Für alle Beschäftigten1 einschließlich der Auszubildenden. Ausgenommen sind alle Personen, die nach § 5 Abs. 2 und 3 Betriebsverfassungsgesetz nicht als Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes gelten.

§ 3

Gehaltsgruppen

Gehaltsgruppe I

Angestellte ohne abgeschlossene kaufmännische Ausbildung, Angestellte ohne Berufsausbildung.

Ab 4. Tätigkeitsjahr … erfolgt die Eingruppierung in die der Tätigkeit entsprechende Gruppe.

Gehaltsgruppe II

Angestellte mit abgeschlossener einschlägiger Berufsausbildung bzw. nach dreijähriger Tätigkeit nach Vollendung des 18. Lebensjahres in Gehaltsgruppe I.

Beispiele: Verkäufer, Kassierer (auch in Selbstbedienungsabteilungen) mit einfacher Tätigkeit, Steno- und Phonotypisten für einfache Tätigkeiten, Telefonisten, Schaufenster-/Schauwerbegestalter, Angestellte mit einfacher kaufmännischer Tätigkeit in Verwaltung, Datenverarbeitung, Warenannahme, Lager-, Versand- und Werbeabteilungen, Kontrolleure an Packtischen usw., Krankenschwestern/-pfleger mit einfacher Tätigkeit.

§ 5

Lohngruppen

Lohngruppe I

Arbeitnehmer für Tätigkeiten, die ohne besondere berufliche Vorbildung oder Ausbildung ausgeführt werden können.

Beispiele: Auffüller, Raumpfleger und Spülhilfen.

Lohngruppe II

Arbeitskräfte für Tätigkeiten, die ohne handwerkliche Vor- oder Ausbildung ausgeführt werden, die aber

Lohnstaffel a)

gewisse Fertigkeiten oder besondere Geschicklichkeit erfordern.

Lohnstaffel b)

in der Regel körperlich schweres Arbeiten erfordern.

Beispiele: Büfettkräfte mit Kontrollaufgaben, Heizer, soweit sie nicht Handwerker sind, Lagerarbeiter, Lastenfahrstuhlfahrer, die be- und entladen, Packer.

…“

 

4 ABR 29/19 > Rn 21

b) Der GLTV unterscheidet seinem Wortlaut nach zwischen Gehaltsgruppen (§ 3 GLTV) und Lohngruppen (§ 5 GLTV). Er sieht aber nicht ausdrücklich vor, dass der betreffende Arbeitnehmer vor der Einreihung in eine Gehalts- oder Lohngruppe zunächst – in einem eigenen Prüfungsschritt – der Gruppe der Angestellten oder der gewerblichen Arbeitnehmer zuzuordnen wäre. Insoweit unterscheidet sich der GLTV von dem ERTV DB Services, der Gegenstand der vom Landesarbeitsgericht herangezogenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts war (BAG 25. August 2010 – 4 ABR 104/08 – Rn. 14 mwN). Dieser regelte ausdrücklich ein „Entgeltgruppenverzeichnis … für angestellte Arbeitnehmer“ und ein weiteres „Entgeltgruppenverzeichnis für gewerbliche Arbeitnehmer …“.

4 ABR 29/19 > Rn 22

c) Aus dem Umstand, dass die Arbeitnehmer in den Gehaltsgruppen (§ 3 GLTV) durchgehend als „Angestellte“ bezeichnet werden, ergibt sich entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht, dass deshalb „zwischen Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmern (= Arbeiter) zu unterscheiden ist“. Der GLTV sieht keine begriffliche Unterscheidung zwischen Angestellten auf der einen und gewerblichen Arbeitnehmern auf der anderen Seite vor. Während die Tarifvertragsparteien im Rahmen der Gehaltsgruppen (§ 3 GLTV) den Begriff der Angestellten verwendet haben, haben sie im Rahmen der Lohngruppen (§ 5 GLTV) nicht den der Arbeiter oder gewerblichen Arbeitnehmer gewählt, sondern die Beschäftigten dort – unspezifisch – als Arbeitnehmer (Lohngruppen I und III) oder Arbeitskräfte (Lohngruppe II) bezeichnet oder die konkrete Tätigkeit benannt (zB Kraftfahrer, Bedienungspersonal).

4 ABR 29/19 > Rn 23

d) Dieses Verständnis wird durch die Tarifsystematik bestätigt. Eine Zuordnung der Arbeitnehmer zu den Gehaltsgruppen auf der einen oder den Lohngruppen auf der anderen Seite im Wege einer Vorabprüfung widerspräche der durch die Nennung von Tätigkeitsbeispielen getroffenen Wertung der Tarifvertragsparteien.

4 ABR 29/19 > Rn 24

aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sind die Erfordernisse eines Tätigkeitsmerkmals regelmäßig dann als erfüllt anzusehen, wenn der Arbeitnehmer eine dem in der Entgeltgruppe genannten Tätigkeits-, Regel- oder Richtbeispiel entsprechende Tätigkeit ausübt (zuletzt zB BAG 13. November 2019 – 4 ABR 3/19 – Rn. 5, 25 zum Gehaltstarifvertrag für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen vom 29. August 2017). Das beruht darauf, dass die Tarifvertragsparteien selbst im Rahmen ihrer rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten gewisse häufig vorkommende und typische Aufgaben einer bestimmten Entgeltgruppe fest zuordnen können. Haben die Tarifvertragsparteien Tätigkeits-, Regel- oder Richtbeispiele festgelegt, ist ein Rückgriff auf die Obersätze nicht nur überflüssig, sondern unzulässig (BAG 12. Juni 2019 – 4 AZR 363/18 – Rn. 17).

4 ABR 29/19 > Rn 25

bb) Für den streitgegenständlichen Tarifvertrag bedeutet das, dass ein vom GLTV erfasster Arbeitnehmer, der beispielsweise überwiegend als „Auszeichner“ tätig ist, regelmäßig ohne weitere Prüfung des allgemeinen Tätigkeitsmerkmals nach Lohngruppe II Lohnstaffel a) GLTV zu vergüten ist (vgl. BAG 4. September 1996 – 4 AZR 135/95 – zu II b der Gründe, BAGE 84, 97). Eine gesonderte Prüfung, ob es sich bei dem Arbeitnehmer um einen Angestellten oder einen gewerblichen Arbeitnehmer handelt, ist nicht vorgesehen. Ebenso könnte ein Arbeitnehmer, der ua. eine Teiltätigkeit als „Kassierer … mit einfacher Tätigkeit“ ausübt, nicht mehr diesem Tätigkeitsbeispiel zugeordnet werden, wenn er im Rahmen einer vorgeschalteten Prüfung als gewerblicher Arbeitnehmer anzusehen wäre. Die sich aus der Festlegung von Tätigkeitsbeispielen ergebende Wertung der Tarifvertragsparteien würde umgangen, wenn nach außerhalb des Tarifvertrags liegenden Maßstäben vorab geprüft würde, ob ein Arbeitnehmer der Gruppe der Angestellten oder derjenigen der gewerblichen Arbeitnehmer zuzuordnen ist.

4 ABR 29/19 > Rn 26

cc) Auch bei der Prüfung der allgemeinen Tätigkeitsmerkmale bedarf es keines Rückgriffs auf den Status des Arbeitnehmers als Angestellter oder gewerblicher Arbeitnehmer. Soweit diese unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, sind die Tätigkeitsbeispiele im Rahmen der Auslegung als Richtlinien für die Bewertung mit zu berücksichtigen (zuletzt BAG 13. November 2019 – 4 ABR 3/19 – Rn. 25; 23. Januar 2019 – 4 ABR 56/17 – Rn. 27 mwN). Etwas anderes folgt auch nicht aus dem hinsichtlich der Tätigkeit nicht näher bestimmten allgemeinen Tätigkeitsmerkmal der Gehaltsgruppe I GLTV. Dieses enthält zwar keine Tätigkeitsbeispiele. Die dieser Gehaltsgruppe zuzuordnenden Tätigkeiten können aber gleichwohl ohne Heranziehung des Angestelltenbegriffs und unter Berücksichtigung der in § 3 Gehaltsgruppe I Abs. 2 GLTV vorgesehenen Höhergruppierung im Wege der Auslegung ermittelt werden, indem auf eine mögliche kaufmännische Prägung abgestellt oder eine Abgrenzung zu den in Gehaltsgruppe II und Lohngruppe I GLTV genannten Tätigkeitsmerkmalen vorgenommen wird.

4 ABR 29/19 > Rn 27

e) Dass der GLTV keine „statusbezogene“ Unterscheidung von Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmern vorsieht, sondern der Differenzierung zwischen Gehalts- und Lohngruppen lediglich eine – historisch bedingte – gliedernde oder typisierende Funktion zukommt, wird schließlich durch die Tarifgeschichte deutlich.

4 ABR 29/19 > Rn 28

aa) Bis zum Jahr 1979 wurden die Gehalts- und Lohntarifverträge für den Einzelhandel in Niedersachsen getrennt voneinander abgeschlossen. So wurde zuletzt mit Wirkung zum 1. Mai 1978 zwischen dem Einzelhandelsverband Niedersachsen e.V. auf der einen und der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) bzw. der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) auf der anderen Seite ein Gehaltstarifvertrag abgeschlossen, der persönlich „für alle Angestellten …“ galt. Entsprechend sahen die Tätigkeitsmerkmale Tätigkeiten von „Angestellten“ vor. Zeitgleich wurde ein Lohntarifvertrag abgeschlossen. Er galt persönlich „für die in diesen Betrieben beschäftigten arbeiterrentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmer einschließlich der Auszubildenden“. Hier wurden die Arbeitnehmer in den Tätigkeitsmerkmalen ganz überwiegend als „Arbeitskräfte“ bezeichnet. Mit Wirkung zum 1. Mai 1979 trat erstmals ein zwischen dem Einzelhandelsverband Niedersachsen e.V. auf der einen und den Gewerkschaften DAG und HBV auf der anderen Seite abgeschlossener gemeinsamer Gehalts- und Lohntarifvertrag in Kraft. Dieser galt nach seinem persönlichen Geltungsbereich „für alle Beschäftigten …“. Trotz der Vereinheitlichung des persönlichen Geltungsbereichs blieb die Aufteilung in Gehalts- und Lohngruppen aufrechterhalten. Im Rahmen der Gehaltsgruppen wurden die Beschäftigten weiterhin als „Angestellte“ bezeichnet, im Rahmen der Lohngruppen nunmehr überwiegend als „Arbeitnehmer“. Lediglich in der Lohngruppe II wurde der Begriff „Arbeitskräfte“ beibehalten.

4 ABR 29/19 > Rn 29

bb) Durch die Zusammenführung des Gehalts- und Lohntarifvertrags und die damit verbundene Vereinheitlichung des persönlichen Geltungsbereichs ohne Einführung weiterer Differenzierungskriterien für die Zuordnung zu den Gehalts- und Lohngruppen haben die Tarifvertragsparteien zum Ausdruck gebracht, dass künftig die bisherige über den jeweiligen Geltungsbereich vermittelte grundsätzlich notwendige Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern für die Eingruppierung nicht mehr erforderlich ist. Sie erfolgt lediglich anhand der von den Beschäftigten verrichteten Tätigkeit (§ 6 Abs. 2 MTV). Dem entspricht es auch, dass die Tarifvertragsparteien die Bezeichnung der „Arbeitskräfte“ im Rahmen der Lohngruppen überwiegend in den umfassenden Begriff der „Arbeitnehmer“, und nicht etwa in „gewerbliche Arbeitnehmer“, geändert haben. Nach dem ersatzlosen Entfall der spezifischen Geltungsbereichsregelung der vormaligen Tarifverträge handelt es sich bei dem im Rahmen der Gehaltsgruppen weiterhin verwendeten Begriff „Angestellte“ nur noch um einen historisch bedingten Rechtsbegriff, dem aber nicht mehr die Bedeutung als allgemeines Unterscheidungsmerkmal zukommt.

4 ABR 29/19 > Rn 30

III. Ob der Antrag der Arbeitgeberin begründet ist, vermag der Senat nicht zu beurteilen. Es fehlt an den für die Bestimmung der tariflich zu bewertenden Tätigkeit erforderlichen Tatsachenfeststellungen durch das Landesarbeitsgericht. Die Sache ist deshalb zur neuen Anhörung und Entscheidung an dieses zurückzuverweisen.

4 ABR 29/19 > Rn 31

1. Im Rahmen der neuen Anhörung und Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht zunächst festzustellen haben, welche Tätigkeiten dem Arbeitnehmer mit jeweils welchen Zeitanteilen übertragen und wie diese von Seiten der Arbeitgeberin organisiert sind. Auf dieser Grundlage hat es dann zu bestimmen, ob es sich bei der verrichteten Tätigkeit um eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit oder um getrennt zu bewertende Teiltätigkeiten handelt.

4 ABR 29/19 > Rn 32

a) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die dem Arbeitnehmer übertragene Tätigkeit nicht stets als einheitliche Gesamttätigkeit zu bewerten.

4 ABR 29/19 > Rn 33

aa) Gegenstand der tariflichen Bewertung ist gem. § 6 Abs. 2 Satz 1 MTV die „tatsächlich verrichtete Tätigkeit“. Zwar fehlt es an einer ausdrücklichen Bestimmung, nach der eine überwiegende Tätigkeit für die Eingruppierung maßgebend sein soll. Jedoch handelt es sich um einen allgemein anerkannten Grundsatz des Eingruppierungsrechts, dass sich die auszuübende Tätigkeit eines Arbeitnehmers aus verschiedenen Teiltätigkeiten unterschiedlicher Entgeltgruppen zusammensetzen kann (BAG 8. Juli 2015 – 4 AZR 111/14 – Rn. 33 mwN).

4 ABR 29/19 > Rn 34

bb) Anhaltspunkte dafür, die Tarifvertragsparteien des MTV hätten von dieser Regel abweichen wollen, bestehen nicht. Insbesondere setzt eine „Tätigkeit“ iSd. tarifvertraglichen Regelung des § 6 Abs. 2 MTV schon begrifflich nicht voraus, dass der Arbeitnehmer nur eine in einer Gehalts- oder Lohngruppe aufgeführte Tätigkeit ausschließlich ausübt oder diese einheitlich einem tariflichen Tätigkeitsmerkmal entsprechen muss. Auch ein Arbeitnehmer, der nur teilweise etwa als Verkäufer und teilweise in anderer Funktion eingesetzt wird, wird als solcher „tätig“ (vgl. BAG 26. August 2015 – 4 AZR 41/14 – Rn. 43). Der tarifvertraglichen Regelung ist ebenso wenig zu entnehmen, dass die Tarifvertragsparteien von einem anderen Maß als der überwiegend auszuübenden Tätigkeit ausgegangen wären (so etwa in BAG 26. August 2015 – 4 AZR 41/14 – Rn. 44).

4 ABR 29/19 > Rn 35

b) Für die Bestimmung, ob es sich im konkreten Fall um eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit oder mehrere getrennt zu bewertende Teiltätigkeiten handelt, gelten vergleichbare Regeln und Kriterien wie bei der Bestimmung des Arbeitsvorgangs nach den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes (dazu im Einzelnen BAG 16. Oktober 2019 – 4 AZR 284/18 – Rn. 17; 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 24 f. mwN, BAGE 162, 81). Die anzuwendenden Maßstäbe sind lediglich weniger streng (st. Rspr., zB BAG 24. Februar 2016 – 4 AZR 980/13 – Rn. 15 mwN; 25. August 2010 – 4 ABR 104/08 – Rn. 15).

4 ABR 29/19 > Rn 36

c) Das Landesarbeitsgericht wird danach festzustellen haben, welche Einzeltätigkeiten der Arbeitnehmer in welchem zeitlichen Umfang auszuüben hat. Die bisherigen Feststellungen sind nicht ausreichend. Sie beschränken sich insoweit auf die ungefähre Beschreibung der Tätigkeit. Im Übrigen gibt das Landesarbeitsgericht lediglich umfangreich den streitigen Vortrag der Beteiligten wieder. Den Feststellungen ist auch nicht zu entnehmen, wie die Tätigkeit des Arbeitnehmers organisiert ist, insbesondere ob dessen Teilaufgaben im Schwedenshop, im Bistro, im Mitarbeiter- und im Kundenrestaurant sowie ggf. auch in der Warenverräumung von vornherein tatsächlich auseinander gehalten und auch organisatorisch voneinander getrennt sind oder etwa nach der eigenen bedarfsorientierten Einschätzung des Arbeitnehmers ineinander übergehen.

4 ABR 29/19 > Rn 37

2. In einem nächsten Schritt wird das Landesarbeitsgericht zu prüfen haben, ob die tariflich gesondert zu bewertenden Teiltätigkeiten oder die einheitliche Gesamttätigkeit einem oder mehreren Tätigkeitsbeispielen entsprechen. Das setzt regelmäßig voraus, dass die Tätigkeit innerhalb der zu bewertenden Gesamt- oder Teiltätigkeit zeitlich überwiegend, also zu mehr als 50 vH der Arbeitszeit ausgeübt wird. Zwingend erforderlich ist das aber nicht. Die anfallenden Aufgaben können auch durch ihre qualitativen Anforderungen den Schwerpunkt der Tätigkeiten bilden und für die Gesamt- oder Teiltätigkeit so bedeutsam sein, dass diese insgesamt dem „Bild“ der durch das Tätigkeitsbeispiel beschriebenen Tätigkeit entspricht. Es muss sich um dem Tätigkeitsbeispiel typischerweise zuzuordnende Tätigkeiten handeln. Im Entscheidungsfall kommen insoweit aus den Gehaltsgruppen (§ 3 GLTV) – je nach genauem Zuschnitt der Tätigkeit – etwa die Beispiele Verkäufer oder Kassierer mit einfacher Tätigkeit (Gehaltsgruppe II GLTV) oder Büfettkräfte mit Kontrollaufgaben (Lohngruppe II Lohnstaffel b) GLTV) in Betracht.

4 ABR 29/19 > Rn 38

3. Sollte die dem Arbeitnehmer übertragene Tätigkeit nicht überwiegend einem Tätigkeitsbeispiel entsprechen, ist die Erfüllung der in Betracht kommenden allgemeinen Tätigkeitsmerkmale zu prüfen. Bei deren Auslegung können die Tätigkeitsbeispiele als Richtlinien für die Bewertung mit herangezogen werden (sh. zuletzt BAG 13. November 2019 – 4 ABR 3/19 – Rn. 25; 23. Januar 2019 – 4 ABR 56/17 – Rn. 27 mwN).

 

 

Treber       Klug       Rinck

S. Gey-Rommel       Moschko


Zusammenfassung:

(Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des Bundesarbeitsgerichts)

1.
Der Gehalts- und Lohntarifvertrag für den Einzelhandel in Niedersachsen idF vom 18.7.2019 unterscheidet zwar begrifflich zwischen Gehalts- und Lohngruppen. Diese Differenzierung ist jedoch lediglich historisch bedingt. Sie gebietet keine gesonderte Prüfung, ob ein Beschäftigter der Gruppe der Angestellten oder der gewerblichen Arbeitnehmer zuzuordnen ist. Die Eingruppierung richtet sich vielmehr ausschließlich nach den jeweiligen Tätigkeitsmerkmalen und -beispielen (Rn. 17 ff.).

2.
Aus § 6 II 1 des Manteltarifvertrags für den Einzelhandel in Niedersachsen ergibt sich nicht, dass die vom Beschäftigten „tatsächlich verrichtete Tätigkeit“ tariflich stets als einheitliche Gesamttätigkeit zu bewerten wäre. Die Tarifnorm enthält keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Tarifvertragsparteien hätten von dem allgemein anerkannten Grundsatz des Eingruppierungsrechts, dass sich die auszuübende Tätigkeit auch aus tariflich gesondert zu bewertenden Teiltätigkeiten zusammensetzen kann, abweichen wollen (Rn. 32 ff.).

3.
Sieht ein Tarifvertrag der Privatwirtschaft keine eigenständigen Kriterien für die Bestimmung vor, ob es sich im konkreten Fall um eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit oder mehrere getrennt zu bewertende Teiltätigkeiten handelt, sind grundsätzlich die für die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes für die Bestimmung von Arbeitsvorgängen geltenden Kriterien mit der Maßgabe entsprechend heranzuziehen, dass die dabei anzuwendenden Maßstäbe weniger streng sind (Rn. 35).

Papierfundstellen:

NZA 2020, 1258

Die Entscheidung BAG – 4 ABR 29/19 wird zitiert in:

  1. > BAG, 24.02.2021 – 4 ABR 19/20

  2. > BAG, 14.10.2020 – 4 AZR 252/19