BAG – 2 AZR 399/91

Krankheitsbedingte Kündigung – Arbeitsunfähigkeit – ungewisse Genesung

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.05.1992, 2 AZR 399/91
Leitsatz
1. Ist der Arbeitnehmer bereits längere Zeit arbeitsunfähig krank (hier: 1 1/2 Jahre) und ist im Zeitpunkt der Kündigung die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit noch völlig ungewiß, so kann diese Ungewißheit wie eine feststehende dauernde Arbeitsunfähigkeit zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen führen (im Anschluß an das Senatsurteil vom 28. Februar 1990 – 2 AZR 401/89 – AP Nr 25 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit).
Tatbestand
Der am 14. März 1969 geborene, ledige Kläger wurde bei der Beklagten, einem Unternehmen der Kraftfahrzeugherstellung, vom 9. September 1985 bis 31. Januar 1989 zum Mechaniker ausgebildet und ab 1. Februar 1989 im Werk M als Werkzeugwechslerhelfer gegen eine monatliche Vergütung von etwa 2.800,– DM brutto beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft Verbandszugehörigkeit die Tarifverträge für die Arbeiter und Angestellten in der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden Anwendung. U.a. gelten folgende Regelungen:
Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer und Ange-
stellten in der Metallindustrie in Nordwürttem-
berg/Nordbaden vom 24. April 1987, gültig ab
1. April 1988 (MTV 1987):

§ 12

12.4 Beschäftigte nach 5jähriger Tätigkeit im
selben Unternehmen erhalten über die Frist
des § 12.3 hinaus einen weiteren Monat, Be-
schäftigte mit mindestens 10jähriger Be-
triebszugehörigkeit im selben Unternehmen
für noch einen wei- teren Monat als Zuschuß
zum Krankengeld die Differenz zwischen dem
Krankengeld und 100 % der monatlichen Net-
tobezüge.

Urlaubsabkommen für die Arbeiter und Angestellten
der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden
vom 11. Mai 1988 (UA):

§ 2
2.1 Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Urlaubsjahr
einmal Anspruch auf bezahlten Urlaub. Das
Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr.
2.2 Urlaub wird zur Erholung gewährt. Er muß im
laufenden Kalenderjahr … gewährt und ge-
nommen werden.
2.3 Eine Abgeltung des Urlaubs ist nicht zuläs-
sig.
Ausnahmen sind nur möglich bei Kündigung
des Arbeitsverhältnisses und bei längerer
Krankheit…
2.8 Zeiten einer mit Arbeitsunfähigkeit verbun-
denen Krankheit … dürfen nicht auf den
Urlaub angerechnet werden.
2.9 Die in 2.8 genannten Zeiten mindern den Ur-
laubsanspruch grundsätzlich nicht.
Der Urlaubsanspruch verringert sich jedoch
für jeden weiteren vollen Monat um 1/12 des
Jahresurlaubs
– bei einer Krankheitsdauer von über 9
Monaten im Urlaubsjahr.

§ 4
4.1 Das Urlaubsentgelt (während des Erho-
lungs- und Zusatzurlaubs zu zahlender
Lohn/Gehalt und zusätzliche Urlaubsver-
gütung) errechnet sich wie folgt:
4.1.1 für Arbeiter
4.1.1.1 hinsichtlich der Lohnhöhe 150 % des
durchschnittlichen Stundenverdienstes
der letzten abgerechneten 13 Wochen bzw.
3 Monate bei Monatsabrechnung vor An-
tritt des Urlaubs.

Tarifvertrag über die tarifliche Absicherung be-
trieblicher Sonderzahlungen für Arbeiter und An-
gestellte in der Metallindustrie in Nordbaden/
Nordwürttemberg vom 11. Mai 1988 (TV Sonderzah-
lungen):

§ 2
2.1 Arbeitnehmer, die jeweils am Auszahlungstag
in einem Arbeitsverhältnis stehen und zu
diesem Zeitpunkt dem Betrieb ununterbrochen
sechs Monate angehört haben, haben je Ka-
lenderjahr einen Anspruch auf betriebliche
Sonderzahlungen.

2.2 Die Sonderzahlungen werden nach folgender
Staffel gezahlt:

nach 36 Monaten Betriebszugehörigkeit 50 %
eines Monatsverdienstes bzw. einer Monats-
vergütung.


2.6 Anspruchsberechtigte Arbeitnehmer, deren
Arbeitsverhältnis im Kalenderjahr kraft Ge-
setzes oder Vereinbarung ruht, erhalten
keine Leistung; ….
Protokollnotiz:
Es besteht Einigkeit darüber, daß … und
erkrankte Anspruchsberechtigte nicht von
§ 2 Ziff. 6. Abs. 1 erfaßt werden.
Seit dem 28. Februar 1989 ist der Kläger arbeitsunfähig krank und befindet sich mit Unterbrechungen in psychotherapeutischer Behandlung in einer Tagesklinik für psychisch Kranke. In den Anfangsmonaten wurde sein Arbeitsplatz von anderen Mitarbeitern der Werkzeugvoreinstellung durch Ableistung von Überstunden mitbetreut. Ende September 1989 wurde zur Besetzung des Arbeitsplatzes ein Arbeitnehmer aus einer Parallelabteilung zunächst entliehen und ab 1. November 1989 in die Abteilung Werkzeugvoreinstellung fest übernommen.
Der Beklagten entstanden während der Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum 30. Oktober 1990 folgende Lohn- und Lohnnebenkosten:
1989 1990
Lohnfortzahlung 3.871,05 DM
Sondervergütung 2.731,04 DM 3.495,– DM
Urlaubsgeld ./. 4.964,90 DM
Vermögensbildung 72,80 DM
Sozialversiche-
rungsbeiträge 1.141,41 DM
Gesamtbetrag 16.276,20 DM
Auf Anfrage der Beklagen vom 10. April 1990 erklärte der Kläger, in Kürze die Arbeit wieder aufzunehmen. Auf eine weitere Nachfrage vom 13. September 1990 antwortete er, keinen Termin für eine Wiederaufnahme der Arbeit nennen zu können.
Mit Schreiben vom 17. Oktober 1990 teilte die Beklagte dem Betriebsrat ihre Absicht mit, dem Kläger zum nächstmöglichen Termin ordentlich zu kündigen, da er seit dem 28. Februar 1989 krankheitsbedingt fehle und mit einer Arbeitsaufnahme in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sei. In einer Anlage zu diesem Schreiben führte sie zur Begründung u.a. weiter aus:
Entwicklung der Fehlzeiten

In den Jahren 1989 und 1990 wurden insgesamt
16.276,20 DM Lohnfortzahlungs- und Personalneben-
kosten gezahlt. Nach den uns vorliegenden Infor-
mationen ist mit einer Arbeitsaufnahme des Herrn
L in absehbarer Zeit nicht zu rechnen.
Ergriffene Maßnahmen
Auf unsere Anfrage vom 10.04.1990, wann mit einer
Arbeitsaufnahme zu rechnen sei, antwortete Herr
L , daß er die Arbeit in Bälde wieder aufnehmen
werde. Nach einem nochmaligen Anschreiben vom
13.09.1990 nannte Herr L wieder keinen konkre-
ten Termin für seine Arbeitsaufnahme.
Aufgrund der Tatsache, daß Herr L uns trotz
zweimaliger Anfrage keinen konkreten Termin für
seine Arbeitsaufnahme mitgeteilt hat bzw. zu
einem Gespräch nicht erschienen ist, gehen wir
davon aus, daß in absehbarer Zeit mit einer Ar-
beitsaufnahme nicht zu rechnen ist.
Fazit
Aufgrund der langen Abwesenheitszeit des Herrn
L betrachten wir das Arbeitsverhältnis als
sinnentleert. Außerdem gehen wir davon aus, daß
Herr L die Arbeit in absehbarer Zeit nicht
aufnehmen wird.

Eine weitere Anlage enthielt die Aufschlüsselung der vorgenannten Kosten. Der Betriebsrat widersprach unter dem 6. November 1990 mit folgender Begründung:
„Da der Kollege gerade wegen seiner Krankheit be-
sonders schutzbedürftig ist, widersprechen wir
dieser Kündigung. Wir sind der Auffassung, daß in
diesem Fall die Belange schutzbedürftig sind als
die der Firma und daß es der Firma ohne weiteres
zugemutet werden kann, abzuwarten wie, die
Krankheit des Kollegen sich entwickelt.
In unserer Anhörung am 05.11.1990 sagte uns der
Kollege, daß sein Sozialberater ihn aufgefordert
hat eine E.U.Rente für 1991 zu beantragen, daß er
allerdings denkt, daß dann ein Arbeitsversuch ge-
startet werden kann.
Bis zu diesem Zeitpunkt sollte die Firma abwar-
ten.
Wir widersprechen aus sozialen und menschlichen
Gesichtspunkten dieser Kündigung.“
Mit Schreiben vom 9. November 1990 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31. März 1991. Hiergegen hat sich der Kläger mit der beim Arbeitsgericht am 26. November 1990 eingegangenen Klage gewandt. Er hat die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats mit Nichtwissen bestritten und der Beklagten anheim gegeben darzulegen, was sie dem Betriebsrat gegebenenfalls über das Anhörungsschreiben hinaus mitgeteilt habe. Er hat weiter geltend gemacht, daß die Kündigung sozial ungerechtfertigt sei. Hierzu hat er vorgetragen:
Das Ende seiner Arbeitsunfähigkeit sei derzeit nicht absehbar. Die Mitte 1990 mehrere Monate wegen stationärer Versorgung einer Sprunggelenksfraktur unterbrochene Behandlung mache gute Fortschritte. Die Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit sei nicht ausgeschlossen, ein Zeitpunkt, etwa zwei oder fünf Monate, sei nicht bestimmbar. Die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses sei für den Genesungsprozeß förderlich, wie sich aus der Bescheinigung der Tagesklinik vom 23. Januar 1991 ergebe. Es sei der Beklagten zuzumuten, das Ende seiner Arbeitsunfähigkeit abzuwarten. Wirtschaftlich würde sie lediglich mit den Kosten für die Jahressonderzahlungen und Urlaubsgeld belastet. Dies stehe in keinem Verhältnis zu seinem Interesse auf Fortbestand des Arbeitsverhältnisses.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß sein Arbeitsverhältnis nicht
durch die mit Schreiben der Beklagten vom 9. No-
vember 1990 ausgesprochene Kündigung zum 31. März
1991 aufgelöst worden ist, sondern darüber hinaus
fortbesteht.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, der Kläger sei auf Dauer außerstande, in der Produktion eines Industrieunternehmens zu arbeiten. Ein Einsatz in Wechselschicht oder gar im Akkord könne ihm wegen Gefahr gesundheitlicher Beeinträchtigungen nicht zugemutet werden. Er könne deshalb seine Arbeit als Werkzeugwechslerhelfer nicht mehr ausüben. Jedenfalls sei die Kündigung im Hinblick auf die durch die Arbeitsunfähigkeit verursachten und noch zu erwartenden betrieblichen Beeinträchtigungen gerechtfertigt. Auf dem Arbeitsplatz des Klägers könne nur ein Facharbeiter nach längerer Einarbeitung beschäftigt werden. Die befristete Einstellung einer solchen Ersatzkraft sei schon im Hinblick auf die nicht absehbare Dauer der Arbeitsunfähigkeit ausgeschlossen. Abgesehen davon könne eine qualifizierte Fachkraft für eine nur befristete Beschäftigung ohnehin nicht gefunden werden. Die bei der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses aufgrund der tariflichen Vereinbarungen jährlich entstehenden Lohnnebenkosten seien ihr nicht mehr zumutbar.
Das Arbeitsgericht hat festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 9. November 1990 zum 31. März 1991 aufgelöst worden ist. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat dieses Urteil auf die nur von der Beklagten eingelegte Berufung abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
Mit der Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Begründung
Die Revision ist unbegründet. I. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, wie bereits in der Berufungsinstanz, nur noch der dem § 4 Satz 1 KSchG entsprechende Antrag des Klägers festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 9. November 1990 nicht zum 31. März 1991 aufgelöst worden ist. Den weitergehenden, § 256 ZPO entsprechenden Antrag festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis über den Kündigungstermin hinaus fortbesteht, hat das Arbeitsgericht als unzulässig abgewiesen. Insoweit ist sein Urteil rechtskräftig, da der hierdurch allein beschwerte Kläger keine Berufung eingelegt hat.
II. Das Berufungsgericht hat die Kündigung für sozial gerechtfertigt angesehen und dies im wesentlichen wie folgt begründet:
Gegen die Ordnungsmäßigkeit der Betriebsratsanhörung bestünden keine Bedenken. Die Beklagte habe die Fotokopien der maßgeblichen schriftlichen Anhörungsunterlagen vorgelegt. Aus ihnen ergebe sich die hinreichende Darlegung des Kündigungsgrundes der langanhaltenden Krankheit im Sinne des § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG. Die Beklagte habe sich auf die Vorlage dieser Fotokopie beschränkt und nicht behauptet, dem Betriebsrat über das Anhörungsschreiben hinaus weitere Mitteilungen gemacht zu haben. Damit habe sie ihrer prozessualen Darlegungslast hinreichend genügt. Der Kläger habe die Richtigkeit der dem Betriebsrat übermittelten Schriftstücke nicht bestritten.
Auf eine dauernde krankheitsbedingte Leistungsunfähigkeit des Klägers könne die Beklagte die Kündigung nicht stützen, weil sie dem Betriebsrat diesen Umstand nicht als Kündigungsgrund genannt habe. Dies sei aber erforderlich gewesen, weil es sich insoweit gegenüber der langanhaltenden Krankheit um einen eigenständigen Kündigungsgrund handele.
Die Frage der sozialen Rechtfertigung der Kündigung könne somit nur unter dem Gesichtspunkt der langanhaltenden Krankheit gerichtlich überprüft werden. Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen seien erfüllt.
Im Zeitpunkt der Kündigung Mitte November 1990 sei aufgrund objektiver Umstände mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers auf absehbare Zeit nicht zu rechnen gewesen. Bei seiner Befragung am 13. September 1990 habe der Kläger die Frage nach seiner Wiedergenesung nicht beantworten können. Dem Betriebsrat habe er am 5. November 1990 im Rahmen des Anhörungsverfahrens erklärt, ihm sei für das Jahr 1991 angeraten worden, einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente zu stellen. Die vorgelegte ärztliche Bescheinigung vom 23. Januar 1991 lasse den Zeitpunkt seiner Wiedergenesung immer noch völlig offen. Schließlich habe der Kläger selbst im vorliegenden Verfahren keine Erklärungen abgegeben, die ein Bestreiten der Behauptung der Beklagten erkennen ließen, Anhaltspunkte für die Wiederherstellung seiner Gesundheit gebe es nicht. Diese Frage habe selbst im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht (25. Juli 1991) noch nicht beantwortet werden können.
Die bisherigen und zu erwartenden Fehlzeiten führten auch zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen der Beklagten.
Wie das Berufungsgericht mit näherer Begründung hierzu weiter ausgeführt hat, könne die Kündigung auf Betriebsablaufstörungen wie die zwischenzeitliche Besetzung des Arbeitsplatzes des Klägers mit einem anderen Arbeitnehmer nicht gestützt werden, weil diese Maßnahme bereits am 1. November 1989 und damit schon ein Jahr vor dem Zugang der Kündigung abgeschlossen gewesen sei. Jedoch werde die Beklagte durch die Arbeitsunfähigkeit des Klägers in Zukunft mit erheblichen finanziellen Auswirkungen belastet. Wie außergewöhnlich hohe Lohnfortzahlungskosten seien auch laufende Zahlungen, die der Arbeitgeber trotz langanhaltender Krankheit ohne Gegenleistung entrichten müsse, geeignet, einen Kündigungsgrund abzugeben. Vorliegend sei die Beklagte verpflichtet, dem Kläger nach dem Urlaubsabkommen vom 11. Mai 1988 (§ 2.3, §§ 3, 4) im Kalenderjahr 9/12 des Jahresurlaubs, mithin 23 Urlaubstage in Höhe von 150 % des Monatsentgelts abzugelten, nach dem TV über Sonderzahlungen eine Jahresleistung von 50 % seines Monatsverdienstes zu gewähren, mithin jährlich tarifliche Zahlungen in Höhe von mehr als 9 Wochenlöhnen zu leisten. Den Tarifverträgen sei nicht zu entnehmen, daß die danach geschuldeten Leistungen sich nach den Grundvorstellungen der Tarifvertragsparteien nicht kündigungsrelevant auswirken dürften.
Im Rahmen der Interessenabwägung überwiege das Interesse der Beklagten an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Klägers an dessen Fortsetzung. Der noch sehr junge Kläger habe nach seiner betrieblichen Ausbildung gerade noch einen Monat lang bei der Beklagten gearbeitet. Der ihm geschuldete Schutz und die Fürsorge der Beklagten seien deshalb erst im Entstehen begriffen gewesen, als der Kläger krankheitsbedingt gehindert worden sei, seinen Vertragspflichten nachzukommen.
III. Diese Würdigung hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung im Ergebnis stand.
1. Das Berufungsgericht hat die Kündigung der Beklagten wegen der auf einer langanhaltenden Krankheit des Klägers beruhenden Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen für sozial gerechtfertigt angesehen. Hierbei hat es zutreffend die Überprüfung in drei Stufen vorgenommen, und zwar nach Kriterien, die ihrer Struktur nach auch für andere Arten der krankheitsbedingten Kündigung gelten (vgl. für die langanhaltende Krankheit BAGE 40, 361, 367 f. = AP Nr. 7 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu B I der Gründe; für häufige Kurzerkrankungen Senatsurteil vom 5. Juli 1990 – 2 AZR 154/90 – AP Nr. 26 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu II der Gründe; für dauernde Leistungsunfähigkeit Senatsurteil vom 28. Februar 1990 – 2 AZR 401/89 – AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969, zu II 1 b bb der Gründe).
a) Danach ist zunächst eine negative Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes erforderlich.
b) Die bisherigen und nach der Prognose zu erwartenden Auswirkungen des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers müssen weiter zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Sie können durch Störungen im Betriebsablauf oder wirtschaftliche Belastungen hervorgerufen werden.
c) In der dritten Stufe, bei der Interessenabwägung, ist dann zu prüfen, ob die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen. Die dauernde Leistungsunfähigkeit des Arbeitnehmers führt dabei grundsätzlich zu einer für den Arbeitgeber nicht mehr tragbaren betrieblichen Beeinträchtigung.
2. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, daß im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung Mitte November 1990 mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers in absehbarer Zeit nicht zu rechnen gewesen sei. Hierfür hat es sich auf die eigenen Erklärungen des Klägers gegenüber der Beklagten und dem Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung, die ärztliche Bescheinigung vom 23. Januar 1991 sowie das Prozeßverhalten des Klägers in den Vorinstanzen gestützt. Diese tatsächlichen Feststellungen sind von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffen worden und verstoßen auch nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze. Die negative Gesundheitsprognose ist deshalb für den Senat bindend festgestellt worden (§ 561 ZPO).
3. Das Berufungsgericht hat in der zweiten Prüfungsstufe auf eine erhebliche Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen durch die trotz fortdauernder Arbeitsunfähigkeit zu gewährenden tariflichen Leistungen (Urlaubsabgeltung und Jahressonderzahlung) abgestellt. Der Senat läßt offen, ob die Belastung des Arbeitgebers mit tariflichen Leistungen der vorbezeichneten Art grundsätzlich als derartige Beeinträchtigung wirtschaftlicher Interessen anerkannt werden kann (vgl. Senatsurteil vom 6. September 1989 – 2 AZR 224/89 – AP Nr. 23 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu II 2 c der Gründe). Denn eine langanhaltende Krankheit vermag eine Kündigung ohne Rücksicht auf zusätzliche wirtschaftliche Belastungen des Arbeitgebers bereits dann sozial zu rechtfertigen, wenn, wie im vorliegenden Fall, im Zeitpunkt der Kündigung die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit völlig ungewiß ist und die Krankheit bereits längere Zeit, wie hier eineinhalb Jahre, angedauert hat. Diese Ungewißheit steht der (feststehenden) dauernden Arbeitsunfähigkeit im Sinne der bisherigen Rechtsprechung gleich.
a) Steht fest, daß der Arbeitnehmer in Zukunft die geschuldete Arbeitsleistung überhaupt nicht mehr erbringen kann, so ist schon aus diesem Grund das Arbeitsverhältnis auf Dauer ganz erheblich gestört. Die auf das jeweilige Arbeitsverhältnis bezogene, betriebliche Beeinträchtigung besteht darin, daß der Arbeitgeber damit rechnen muß, der Arbeitnehmer sei auf Dauer außerstande, die von ihm geschuldete Leistung zu erbringen. In diesem Fall liegt die erhebliche betriebliche Beeinträchtigung darin, daß der Arbeitgeber auf unabsehbare Zeit gehindert wird, sein Direktionsrecht (vgl. dazu KR-Rost, 3. Auflage, § 2 KSchG Rz 36 f.) auszuüben. Er kann den Arbeitnehmer schon allein hinsichtlich der Bestimmung von Zeit und Reihenfolge der Arbeit nicht mehr frei einsetzen; eine irgendwie geartete Planung seines Einsatzes ist ebenso wenig möglich wie der von Vertretungskräften. Selbst der befristete Einsatz von Aushilfskräften wird angesichts der nach § 1 BeschFG auf 18 Monate beschränkten Möglichkeiten erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht, wenn solche Aushilfskräfte einen Anspruch auf einen Dauerarbeitsplatz geltend machen. Der Arbeitgeber kann aber nicht gehindert werden, mit der Tätigkeit des Arbeitnehmers auf Dauer einen anderen Arbeitnehmer zu beauftragen (vgl. Senatsurteil vom 28. Februar 1990, AP, aaO, zu II 1 b bb der Gründe).
b) Dem – auf gesundheitlichen Gründen beruhenden – dauernden Unvermögen des Arbeitnehmers, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, ist die Ungewißheit, wann der Arbeitnehmer wieder hierzu in der Lage sein wird, gleichzustellen, wenn im Zeitpunkt der Kündigung die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit noch völlig ungewiß ist. Dann ist der Arbeitgeber in einer dem Fall der feststehenden Leistungsunfähigkeit vergleichbaren Lage.
Im Schuldrecht steht die dauernde Unmöglichkeit (hier das Unvermögen) der vorübergehenden gleich, wenn diese die Erreichung des Vertragszweckes in Frage stellt und dem anderen Vertragsteil die Einhaltung des Vertrages bis zum Wegfall des Leistungshindernisses nicht zuzumuten ist. Ob das zutrifft, ist unter Berücksichtigung aller Umstände und der Belange beider Parteien nach Treu und Glauben zu entscheiden (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 52. Aufl., § 275 Rz 17 und 18, m. w. N.). Auch das Arbeitsverhältnis ist ein, wenn auch durch einen besonderen Arbeitnehmerschutz geprägtes, Austauschverhältnis. Deshalb ist bei der Prüfung der möglichen nachteiligen Folgen krankheitsbedingter Fehlzeiten auch die erhebliche Störung des Äquivalenzverhältnisses zu berücksichtigen. Es genügt allerdings nicht bereits ein nur unausgewogenes Verhältnis zwischen Erfüllung der Arbeits- und Lohnfortzahlungspflicht, um unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Belastung mit Lohnfortzahlungskosten eine Kündigung wegen häufiger Erkrankungen sozial zu rechtfertigen (BAGE 61, 131, 144 f. = AP Nr. 20 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu B III 1 c bb der Gründe). Bei langanhaltender Krankheit, bei der – von dem vorliegenden Fall besonderer tariflicher Regelungen abgesehen – die wirtschaftlichen Auswirkungen in den Hintergrund treten, wird dieses Äquivalenzverhältnis deshalb besonders gestört, wenn eine Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers überhaupt nicht mehr absehbar ist. Deshalb kann der Beeinträchtigung des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung durch eine feststehende Leistungsunfähigkeit die Beeinträchtigung durch eine langandauernde gleichgestellt werden, wenn die Dauer der Leistungsunfähigkeit zumindest völlig ungewiß, oder, wie vorliegend, sogar nicht abzusehen ist, ob die Leistungsfähigkeit überhaupt wieder hergestellt werden kann.
4. Wendet man diesen Grundsatz auf den vorliegenden Fall an, so ist die Kündigung der Beklagten ohne Rücksicht auf die ihr bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses entstehenden wirtschaftlichen Belastungen sozial gerechtfertigt. Dies kann der Senat abschließend entscheiden.
a) Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß im Zeitpunkt der Kündigung – und selbst noch im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung – völlig offen war, wann der Kläger wieder arbeitsfähig sein werde. Es hat darüber hinaus die Behauptung der Beklagten, es gebe keine Anhaltspunkte für eine mögliche Wiederherstellung der Gesundheit des Klägers, gem. § 138 Abs. 3 ZPO als nicht bestritten und damit als zugestanden angesehen. An diese Feststellungen ist der Senat gem. § 561 Abs. 2 ZPO gebunden, da der Kläger hiergegen keine Verfahrensrügen erhoben hat.
b) Die Beklagte ist auch nicht aus betriebsverfassungsrechtlichen Gründen gehindert, die Kündigung auf diesen Grund zu stützen.
Der Arbeitgeber kann allerdings keine ihm bekannten Kündigungsgründe verwerten, die er dem Betriebsrat nicht im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG mitgeteilt hat (BAGE 49, 39, 45 f. = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972, zu B I 2 der Gründe). Deshalb hat das Berufungsgericht vorliegend zu Recht angenommen, daß die Beklagte mit dem Kündigungsgrund der feststehenden dauernden Leistungsunmöglichkeit des Klägers ausgeschlossen ist, weil sie diesen in dem Anhörungsschreiben vom 17. Oktober 1990 nicht mitgeteilt hat. Darin heißt es nur, aufgrund der langen Abwesenheit des Klägers betrachte sie das Arbeitsverhältnis als sinnentleert; außerdem gehe sie davon aus, daß in absehbarer Zeit mit einer Arbeitsaufnahme nicht zu rechnen sei.
Damit wurde die Kündigung zwar nicht auf eine (feststehende) dauernde, wohl aber auf eine für nicht absehbare Zeit andauernde Leistungsunfähigkeit des Klägers gestützt, die der dauernden gleichzusetzen ist. Es ist für die Ordnungsmäßigkeit der Anhörung unerheblich, daß die Beklagte nicht diese juristischen Begriffe verwendet hat. Dem Betriebsrat müssen nur die Tatsachen mitgeteilt werden, auf die die Kündigung gestützt werden soll. Kommen nach dem geschilderten Sachverhalt mehrere zur Rechtfertigung der Kündigung geeignete Umstände in Betracht, muß auch mitgeteilt werden, auf welche die Kündigung gestützt werden soll. Auch hiervon muß der Betriebsrat Kenntnis haben, um sachgerecht Stellung nehmen zu können (vgl. Senatsurteil vom 5. Februar 1981 – 2 AZR 1138/78 – AP Nr. 1 zu § 72 LPVG NW, zu II 2 b der Gründe: Hinweis auf Leistungsmängel als Kriterium für die soziale Auswahl des Arbeitnehmers für eine wegen betrieblicher Gründe beabsichtigte Kündigung und spätere Heranziehung der Leistungsmängel als selbständiger – verhaltensbedingter – Kündigungsgrund).
Im vorliegenden Fall war dem Mitteilungsschreiben der Beklagten vom 28. Februar 1989 eindeutig zu entnehmen, daß die Beklagte aufgrund der mitgeteilten Umstände auch schon deswegen die Kündigung für geboten erachtet hat, weil in absehbarer Zeit mit einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers nicht zu rechnen sei und das Arbeitsverhältnis als sinnentleert betrachtet werde.
Der Senat konnte dies abschließend würdigen, da der Kläger nach der bindenden Feststellung des Berufungsgerichts (§ 561 Abs. 1 ZPO) die Richtigkeit der dem Betriebsrat übermittelten Schriftstücke nicht bestritten hat und die Beklagte dem Betriebsrat darüber hinaus keine weiteren Mitteilungen hatte zukommen lassen.
c) Auch die Interessenabwägung des Landesarbeitsgerichts ist nicht zu beanstanden. Sie ist zwar in der letzten Prüfungsstufe systematisch auch bei einer Kündigung wegen dauernder oder diesem Tatbestand gleichstehender Arbeitsunfähigkeit auf unabsehbare Zeit erforderlich, kann aber nur bei Vorliegen einer besonderen Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers zu dem Ergebnis führen, daß der Arbeitgeber trotz der erheblichen Störung des Arbeitsverhältnisses auf nicht absehbare Zeit deren Fortsetzung billigerweise weiter hinnehmen muß. Diese Voraussetzung liegt mit Rücksicht auf das Alter des Klägers und die kurze Dauer des ungestörten Bestandes des Arbeitsverhältnisses nicht vor.
Hillebrecht       Triebfürst       Bitter
Timpe       Strümper
__________
Vorinstanzen: LAG Baden-Württemberg, 6 Sa 50/91, Urteil vom 25.07.1991, ArbG Stuttgart, 1 Ca 6900/90, Urteil vom 19.03.1991


Papierfundstellen:

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