BAG – 2 AZR 431/98

Krankheitsbedingte Kündigung – dauernde Arbeitsunfähigkeit

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29.04.1999, 2 AZR 431/98

Amtliche Leitsätze

  1. Die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses ist aus Anlaß einer Langzeiterkrankung erst dann sozial gerechtfertigt (§ 1 Abs 2 KSchG), wenn eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit vorliegt – erste Stufe -, eine darauf beruhende erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen festzustellen ist – zweite Stufe – und eine Interessenabwägung ergibt, daß die betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen – dritte Stufe – (Bestätigung der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ua im Urteil vom 21. Februar 1992 – 2 AZR 399/91 – AP Nr 30 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit).
  2. Bei krankheitsbedingter dauernder Leistungsunfähigkeit ist in aller Regel ohne weiteres von einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen auszugehen (im Anschluß an BAG Urteil vom 28. Februar 1990 – 2 AZR 401/89 – AP Nr 25 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). Die Ungewißheit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit steht einer krankheitsbedingten dauernden Leistungsunfähigkeit dann gleich, wenn in den nächsten 24 Monaten mit einer anderen Prognose nicht gerechnet werden kann.
  3. Soweit der Senat im Urteil vom 10. November 1983 (– 2 AZR 291/82 – AP Nr 11 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit) die Auffassung vertreten hat, die spätere Entwicklung einer Krankheit nach Ausspruch einer Kündigung könne zur Bestätigung oder Korrektur der Prognose verwertet werden, wird daran nicht festgehalten. Auch für die Beurteilung einer krankheitsbedingten Kündigung ist vielmehr allein auf den Kündigungszeitpunkt abzustellen (im Anschluß an BAG Urteile vom 6. September 1989 – 2 AZR 118/89 – AP Nr 22 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit und vom 27. Februar 1997 – 2 AZR 160/96 – BAGE 85, 194 = AP Nr 1 zu § 1 KSchG 1969

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Brandenburg vom 26. März 1998 – 8 Sa 8/98 – aufgehoben.

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Brandenburg vom 21. August 1997 – N 1 Ca 680/97 – wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die Kosten der Berufung und der Revision.

Urteil

Tatbestand

Die Klägerin war seit dem 1. Januar 1993 bei dem beklagten Amt (im folgenden: der Beklagte) als Leiterin des Bauamtes aufgrund des Arbeitsvertrages vom 12. November 1992 mit einer Vergütung nach VergGr. III BAT beschäftigt; sie ist als Diplom-Ingenieurin für Stadt- und Regionalplanung qualifiziert. Der Klägerin obliegt die Verwaltung des Bauamtes der im Amt zusammengeführten Gemeinden P, Pa, Pe, S und W. Sie ist dabei neben allgemeiner Verwaltungstätigkeit insbesondere mit der Koordinierung der Bauleitplanung der bezeichneten Gemeinden befaßt. Für das Amt, das insgesamt 21 Mitarbeiter beschäftigt, sind im Bereich des Bauamtes neben der Klägerin als Leiterin weitere sechs Mitarbeiter als Sachbearbeiter für die Bereiche Tiefbau, Hochbau usw. beschäftigt. Aufgaben der Bauleitplanung wurden dabei ausschließlich durch die Klägerin erledigt, für die als Stellvertreterin die Sachbearbeiterin des Bereiches Tiefbau, eine Diplom-Ingenieurin für Tiefbau, eingesetzt war.

Am 17. Juni 1996 erlitt die Klägerin einen unverschuldeten Verkehrsunfall als Fahrradfahrerin; seit diesem Zeitpunkt ist sie arbeitsunfähig erkrankt (sie leidet u.a. an einem HWS-Trauma).

Der Beklagte übertrug zunächst die laufenden Verwaltungsaufgaben der Klägerin auf deren Stellvertreterin, wobei er davon ausging, die Klägerin werde im Herbst des Jahres 1996 wieder arbeitsfähig sein. Nach Darstellung der Klägerin war sie sich zunächst selbst nicht über die schwerwiegenden Unfallfolgen im klaren gewesen und hatte gehofft, Rehabilitationsmaßnahmen würden sie alsbald wiederherstellen; jedenfalls habe sie im November 1996 eine teilweise Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit angekündigt und zugesagt, sie werde ein externes Planungsbüro bei Übernahme von Tätigkeiten unterstützen.

Die Bearbeitung des Flächennutzungsplanes der Gemeinde S sowie die Arbeiten an mehreren Bebauungsplänen wurden zunächst nicht weitergeführt, da insoweit qualifiziertes Personal im Amt nicht vorhanden war, und zwar im einzelnen folgende, an sich der Klägerin obliegende Arbeitsaufgaben:

1.

Planung, Ausstattung und Koordinierung des Wirtschaftsgebäudes im Gemeindezentrum, speziell die Räumlichkeiten der Gemeinde S;

2.

Bauleitplanung folgender Flächen in der Gemeinde S:

1.

Flächennutzungsplan Gemarkung S

2.

Bebauungsplan Nr. 07 „Zentrum“, Mischgebiet

3.

Bebauungsplan Nr. 11 „Amselsteig“, Wohngebiet

4.

Bebauungsplan Nr. 01 „Dichter und Denker“, Wohngebiet

5.

Bebauungspläne „Erlenbruch“, Wohnung und Gewerbe

6.

Bebauungspläne „Lange Enden“, Wohngebiet

7.

Bebauungsplan Nr. 17 „Am Wiesenweg“, Wohngebiet

8.

Bebauungsplan Nr. 06 „In den Steigen“, Wohngebiet

9.

Vorbereitung Städtebauliche- und Erschließungsverträge

10.

Durchführungsverträge zu Vorhaben und Erschließungsplänen

11.

Anträge und Abrechnung von Fördermitteln BBPL-Gebiet „Erlenbruch“

12.

Studien zum BBPL-Gebiet „Erlenbruch“

13.

Fördermittelanträge auf Herausnahme von LSG-Befreiung.

In der Folgezeit entschloß sich der Beklagte, dringende Arbeitsaufgaben der Klägerin auf die Entwicklungsgesellschaft G GmbH zu übertragen, und zwar u.a. die oben genannten Aufgaben zu 2.1, 2.2, 2.3, 2.6, 2.7, 2.9, 2.10 und 2.13.

Am 9. Dezember 1996 beschloß der Amtsausschuß des Beklagten, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zu kündigen. In seiner Stellungnahme vom 18. Dezember 1996 stimmte der Personalrat der Kündigung unter der Bedingung der Wiedereinstellung der Klägerin nach völliger Genesung zu. Ferner erklärte der Personalrat seine Zustimmung zur befristeten Einstellung einer Vertretung für ein Jahr. Bezüglich der weiteren Dauer der Arbeitsunfähigkeit befragt, reichte die Klägerin ein Kurzattest ihres behandelnden Arztes vom 4. Februar 1997 ein, in dem ausgeführt wird, die Klägerin sei weiter aufgrund des Unfalls vom 17. Juni 1996 arbeitsunfähig erkrankt, der Zeitpunkt der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit sei vorerst nicht absehbar, eine neue Entscheidung sei für April 1997 vorgesehen. Daraufhin kündigte der Beklagte mit Schreiben vom 10. Februar 1997 das Arbeitsverhältnis zum 31. März 1997.

Unter dem 1. Dezember 1997 erteilte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte der Klägerin auf ihren Antrag einen Rentenbescheid wegen Erwerbsunfähigkeit zunächst befristet für die Zeit vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Oktober 1998, später verlängert bis zum 30. April 1999.

Die Klägerin hat geltend gemacht, zur Zeit der Kündigung sei mit ihrer Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß nach dem Genesungsverlauf zum April 1997 zu rechnen gewesen, wie sich aus dem Attest ihres behandelnden Arztes ergebe. Sie habe das Amt regelmäßig über den Genesungsprozeß informiert. Betriebliche Ablaufstörungen im Bauamt hätten durch Einsatz einer Ersatzkraft kompensiert werden können; offensichtlich habe das Amt diese Lösungsmöglichkeit nicht ernsthaft ins Auge gefaßt. Jedenfalls habe ihre Stellvertreterin bei einer Umsetzung kombiniert mit der Einstellung einer Aushilfskraft einspringen können. Auch habe das Amt frühzeitig Aufträge an die Entwicklungsgesellschaft vergeben können. Außerdem belege die spätere Gewährung einer Rente auf Zeit, daß noch Aussicht auf Behebung der Erwerbsunfähigkeit bestehe.

Die Klägerin hat beantragt

festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten vom 10. Februar 1997 nicht aufgelöst worden ist.

Der Beklagte hat zu seinem Klageabweisungsantrag geltend gemacht, die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin sei zum Zeitpunkt der Kündigung völlig ungewiß gewesen, wie sich aus dem Attest vom 4. Februar 1997 ergebe. Deshalb komme es auf betriebliche Ablaufstörungen nicht an. Die Klägerin habe auch nicht regelmäßig über ihren Genesungsprozeß informiert. So sei man zunächst von einer kurzfristigen Genesung der Klägerin nach dem Fahrradunfall ausgegangen und habe sich nicht um eine Ersatzkraft bemüht, die auch wegen der erforderlichen Qualifikation kurzfristig auf dem Arbeitsmarkt nicht verfügbar sei. Bei der Fremdvergabe von Planungsaufgaben entstünden finanzielle Aufwendungen, die von ihm, dem Beklagten, nicht getragen werden könnten. Die Abwesenheit der Klägerin habe nur vorübergehend durch Vergabe von Arbeiten an Drittfirmen kompensiert werden können. Insbesondere wegen einzuhaltender Termine bei der Erstellung von Bebauungsplänen sei ein Stillstand der Bauleitplanung eingetreten, wodurch für die betroffenen Gemeinden erhebliche finanzielle Einbußen entstanden seien.

Das Arbeitsgericht hat nach dem Klageantrag erkannt, während auf die Berufung des Beklagten das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen hat. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Begründung

Die Revision der Klägerin ist begründet; sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die Kündigung sei wegen der langen Erkrankung der Klägerin sozial gerechtfertigt, weil zur Zeit der Kündigung festgestanden habe, daß die Arbeitsunfähigkeit auch über diesen Zeitpunkt hinaus fortbestehen werde. Dem Attest vom 4. Februar 1997 sei keine positive Prognose zu entnehmen. Die völlige Ungewißheit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit führe unabhängig von konkreten zusätzlichen wirtschaftlichen Belastungen des Beklagten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen. Die Aufgaben des Beklagten, insbesondere nach der Wiedervereinigung, hätten eine Kontinuität bei den Aufgaben der Bauamtsleitung erfordert; dies könne nicht auf Dauer – wie unbestritten vorgetragen – von nur zum Teil fachlich ausgebildeten Mitarbeitern oder durch Fremdvergabe gewährleistet werden. Die Interessen der Klägerin müßten insoweit zurückstehen.

II. Dem folgt der Senat nicht. Die Revision rügt zutreffend eine fehlerhafte Anwendung des § 1 Abs. 2 KSchG und eine Nichtberücksichtigung einschlägiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Krankheitskündigung.

Bei der Frage, ob die Kündigung der Klägerin aufgrund krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit aus Gründen in der Person bedingt und deshalb sozial gerechtfertigt ist (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG), handelt es sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, die vom Revisionsgericht nur dahin überprüft werden kann, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnormen des § 1 KSchG Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es bei der gebotenen Interessenabwägung, bei der dem Tatsachenrichter ein Beurteilungsspielraum zusteht, alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob die Entscheidung in sich widerspruchsfrei ist (vgl. u.a. Senatsurteile vom 28. Februar 1990 – 2 AZR 401/89 – AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu II 1 b aa der Gründe und vom 6. Februar 1997 – 2 AZR 192/96 – EzA § 102 BetrVG 1972 Nr. 95, zu II 1 der Gründe). Auch unter Zugrundelegung dieses eingeschränkten Überprüfungsmaßstabes hält das angefochtene Urteil einer revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand.

1. Soweit die Revision zunächst geltend macht, das Landesarbeitsgericht habe den Rechtsbegriff der langanhaltenden Krankheit verkannt, ist dem allerdings nicht zu folgen. Abgesehen davon, daß es sich bei dem Terminus „langanhaltende Krankheit“ nicht um einen Rechtsbegriff im eigentlichen Sinne, nämlich einen durch Gesetz ausgeformten Begriff handelt, sondern um eine einzelfallbezogen unter dem Stichwort „Krankheit als Kündigungsgrund“ von Rechtsprechung und Literatur herausgearbeitete Unterform (vgl. dazu etwa Bitter/Kiel, RdA 1995, 26, 30; KR-Etzel, 5. Aufl., § 1 KSchG Rz 343 f.; Hueck/von Hoyningen-Huene, KSchG, 12. Aufl., § 1 Rz 217 f., 219; Löwisch, KSchG, 7. Aufl., § 1 Rz 178 f.), ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, vorliegend handele es sich um eine langanhaltende Krankheit im Sinne der einschlägigen BAG-Rechtsprechung. Die Revision weist insoweit zutreffend selbst darauf hin, es gebe keine starren Grenzen, ab welchem Zeitpunkt eine Krankheit als langandauernd zu gelten habe. Das Bundesarbeitsgericht hat jedenfalls eine acht Monate andauernde Erkrankung als solche langanhaltender Art angesehen (vgl. etwa die Sachverhalte der Urteile vom 22. Februar 1980 – 7 AZR 295/78 – BAGE 33, 1 = AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit und vom 25. November 1982 – 2 AZR 140/81 – BAGE 40, 361 = AP Nr. 7 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). Die Erkrankung der Klägerin dauerte im Zeitpunkt der Kündigung, auf den allein abzustellen ist – siehe auch noch nachfolgend zu 3 b) – (BAG Urteil vom 22. Februar 1980, aaO; für die betriebsbedingte Kündigung: Senatsurteil vom 27. Februar 1997 – 2 AZR 160/96 – BAGE 85, 194 = AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung), knapp acht Monate. Es handelte sich mithin um eine langanhaltende Erkrankung.

2. Auch bei einer langanhaltenden Krankheit ist die Überprüfung der sozialen Rechtfertigung der Kündigung in drei Stufen vorzunehmen (BAG Urteil vom 21. Mai 1992 – 2 AZR 399/91 – AP Nr. 30 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). Danach ist zunächst eine negative Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes erforderlich (erste Stufe). Sodann müssen die zu erwartenden Auswirkungen des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen (zweite Stufe). Schließlich ist eine Interessenabwägung vorzunehmen, bei der zu prüfen ist, ob die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen (dritte Stufe).

3. Die von dem Beklagten vorgenommene Prognose bezüglich der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin, der sich das Berufungsgericht angeschlossen hat, teilt der Senat nicht. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts konnte der Beklagte im Zeitpunkt des Kündigungszugangs nicht davon ausgehen, aufgrund der objektiven Umstände sei mit einer Arbeitsunfähigkeit der Klägerin auf nicht absehbare Zeit zu rechnen gewesen, wie der von der Klägerin selbst eingereichten ärztlichen Bescheinigung vom 4. Februar 1997 zu entnehmen sei. Schon aus diesem Grunde unterliegt das Berufungsurteil der Aufhebung.

a) Die Klägerin rügt zutreffend, daß unter Einbeziehung dieses Attestes nach den Gesamtumständen zum Zeitpunkt der Kündigung jedenfalls (noch) nicht von einer derartigen negativen Prognose fortdauernder Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden konnte. Zur Art der Erkrankung, aus der ggf. Rückschlüsse zu ziehen wären, hat der gemäß § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG darlegungspflichtige Beklagte – auch unter Berücksichtigung einer abgestuften Darlegungslast – nichts näher vorgetragen; das Landesarbeitsgericht hat demzufolge hierzu auch keine Feststellung (§ 561 ZPO) getroffen. Dem Beklagtenvortrag war insofern nur zu entnehmen, nach einem Fahrradunfall habe die Klägerin an einem Schleudertrauma gelitten. Das vorgelegte Attest selbst läßt insofern keine abschließenden Erkenntnisse zu. Wenn das Landesarbeitsgericht hierzu ausführt, die ärztliche Erklärung, daß eine neue Entscheidung für April 1997 vorgesehen sei, bedeute eben nicht, daß die Klägerin nach April 1997 wieder arbeitsfähig sei, so ist diese Schlußfolgerung unergiebig. Dieser Vorbehalt im Attest des Arztes läßt nicht die Annahme zu, die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin sei für längere Zeit völlig ungewiß. Nur bei einer derartigen Sachlage hat der Senat im Urteil vom 21. Mai 1992 (– 2 AZR 39/91 – AP Nr. 30 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit) angenommen, der Fall der Langzeiterkrankung sei dem der auf Dauer festgestellten Arbeitsunfähigkeit gleichzustellen. In jenem Fall ist der Senat erst nach einer 1 1/2-jährigen Erkrankung und der mehrfachen, halbjährlich erfolgten Erklärung des damaligen Klägers, mit seiner Genesung sei alsbald zu rechnen, ohne daß der Grund der Erkrankung in irgendeiner Weise verdeutlicht wurde, zum Ergebnis gekommen, die Kündigung sei gerechtfertigt, weil die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit völlig ungewiß sei. Soweit das Berufungsgericht zur Begründung seiner entgegenstehenden Auffassung auf diese Entscheidung des Senats verweist, geschieht dies zu Unrecht, weil schon in der Sachverhaltsdarstellung gravierende Unterschiede vorliegen: Bei der Klägerin dieses Rechtsstreits sind die Ursache der Erkrankung (Fahrradunfall) und die Art der Erkrankung (Schleudertrauma) im wesentlichen bekannt, ferner liegt eine – wenn auch nicht abschließende – ärztliche Beurteilung vor; schließlich hat die Klägerin nicht über einen derart langen Zeitraum von 1 1/2 Jahren wiederholt Erklärungen dahin abgegeben, die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit stehe bevor. Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin war im Kündigungszeitpunkt nur bis zur angekündigten nächsten ärztlichen Beurteilung im April 1997 ungewiß.

Die Ungewißheit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit kann jedoch nur dann einer krankheitsbedingten dauernden Leistungsunfähigkeit gleichgestellt werden, wenn in absehbarer Zeit mit einer anderen – als der negativen – Prognose nicht gerechnet werden kann. Als absehbare Zeit in diesem Zusammenhang sieht der Senat im Anschluß an die Vorschriften des Beschäftigungsförderungsgesetzes einen Zeitraum bis zu 24 Monaten (§ 1 Abs. 1 BeschFG) an. Denn ein solcher Zeitraum kann gegebenenfalls durch Einstellung einer Ersatzkraft mit einem befristeten Arbeitsverhältnis überbrückt werden. Hier war nach dem Attest eine neue ärztliche Beurteilung für April 1997 vorgesehen.

Diese hätte der Beklagte jedenfalls abwarten müssen, ehe er von einer unabsehbar dauernden Arbeitsunfähigkeit hätte ausgehen können.

b) Insofern kann auch nicht aus der später erfolgten Bewilligung einer Rente für den Zeitraum von mehr als 24 Monaten geschlußfolgert werden, es sei davon auszugehen gewesen, daß schon im Kündigungszeitpunkt auf eine Arbeitsunfähigkeit auf nicht absehbare Zeit zu schließen gewesen sei. Soweit der Senat früher im Urteil vom 10.November 1983 (– 2 AZR 291/82 – AP Nr. 11, aaO) entschieden hat, die spätere tatsächliche Entwicklung einer Krankheit könne bis zum Ende der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz zur Bestätigung oder Korrektur der Prognose verwertet werden, hält er hieran nicht fest. Hierzu hat der Siebte Senat des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 15. August 1984 – 7 AZR 536/82 – AP Nr. 16, aaO) zutreffend darauf hingewiesen, maßgebliche Beurteilungsgrundlage für die Rechtmäßigkeit einer Kündigung seien die objektiven Verhältnisse im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung, was auch für eine aus Anlaß einer langandauernden Krankheit ausgesprochene ordentliche Kündigung gelte; die objektiven Kriterien, nach denen der Arbeitgeber seine Zukunftsprognose zur weiteren Dauer der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers anzustellen habe, müßten beim Zugang der Kündigungserklärung vorliegen. Folge man der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts in dessen Urteil vom 10. November 1983 (AP Nr. 11, aaO), so würde dies dazu führen, daß der Arbeitgeber bei Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung deren Rechtmäßigkeit kaum noch einigermaßen zuverlässig beurteilen könnte und der Ausgang eines Kündigungsschutzprozesses nicht nur für den Arbeitgeber, sondern wegen der möglichen Berücksichtigung einer späteren Verschlechterung seines Gesundheitszustandes auch für den Arbeitnehmer immer weniger vorhersehbar werde. Genau dies würde hier zu Lasten der Klägerin gelten: Das im Februar 1997 durchaus noch offene Ergebnis würde im nachhinein durch eine – im übrigen wiederum noch nicht abschließende – Entwicklung beeinflußt. Würde der Senat an der Rechtsprechung im Urteil vom 10. November 1983 festhalten, stünde dies auch in unlösbarem Widerspruch zu der neueren Rechtsprechung seit dem Urteil vom 27. Februar 1997 (– 2 AZR 160/96 – BAGE 85, 194 = AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung und vom 4. Dezember 1997 – 2 AZR 140/97 – AP Nr. 4, aaO, zu II 1 der Gründe, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, siehe auch schon Senatsurteil vom 6. September 1989 – 2 AZR 118/89 – AP Nr. 22 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu B II 2 der Gründe). Der Senat hat in diesen Entscheidungen aufgezeigt, wie verfahren werden kann, wenn sich eine ursprünglich angestellte Prognose noch während des Laufs der Kündigungsfrist (oder ggf. später) als falsch erweist, nämlich, daß dann an einen Wiedereinstellungsanspruch zu denken ist. Von einer derartigen Möglichkeit ist übrigens auch der Beklagte im Kündigungsschreiben vom 10. Februar 1997 ausgegangen, wenn er der Klägerin einen Wiedereinstellungsanspruch bei völliger Arbeitsfähigkeit innerhalb eines Jahres zugesagt hat. Das kann aber nicht zu der Annahme führen, mit Hilfe einer solchen Wiedereinstellungszusage habe der Beklagte die Erstellung der Negativprognose zeitlich auf einen möglichst frühen Zeitpunkt (10. Februar 1997) festlegen dürfen.

Der Senat hält es daher im Anschluß an die Überlegungen des Siebten Senats im Urteil vom 15. August 1984 (AP, aaO) für richtiger, im Falle einer nachträglichen weiteren Verschlechterung oder auch nur Fortdauer der gesundheitlichen Beeinträchtigung des Arbeitnehmers den Arbeitgeber darauf zu verweisen, eine erneute Kündigung auszusprechen; er hält dies für vertretbarer, als die nachträgliche – positive oder negative – Entwicklung mit allen Unwägbarkeiten für beide Parteien bei der Beurteilung der früher ausgesprochenen Kündigung zu berücksichtigen.

4. Da keine krankheitsbedingte dauernde Leistungsunfähigkeit vorliegt, bei der in aller Regel ohne weiteres von einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen auszugehen ist (vgl. BAG Urteil vom 28. Februar 1990 – 2 AZR 401/89 – AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit), bedarf es vorliegend zur sozialen Rechtfertigung der Kündigung einer konkret festzustellenden erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen. Daran fehlt es hier. Der Senat geht im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts nicht davon aus, daß im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung (10. Februar 1997), auf den es allein ankommt, bereits eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen vorlag; jedenfalls hat der Beklagte als die hierfür darlegungs- und beweispflichtige Partei (§ 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG) dies nicht ausreichend dargetan.

a) Für derartige Fälle langanhaltender Krankheit ist in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteile vom 22. Februar 1980 – 7 AZR 295/78 – BAGE 33, 1, 10 f. = AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu II 2 c der Gründe und vom 25. November 1982 – 2 AZR 140/81 – BAGE 40, 361 = AP Nr. 7 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit) entschieden worden, nach dem das Kündigungsschutzrecht beherrschenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit komme eine ordentliche Kündigung als letztes Mittel (ultima ratio) erst dann in Betracht, wenn dem Arbeitgeber die Durchführung von Überbrückungsmaßnahmen (z.B. Einstellung von Aushilfskräften, Durchführung von Über- oder Mehrarbeit, personelle Umorganisation, organisatorische Umstellungen) nicht möglich oder nicht mehr zumutbar sei; zu den vom Arbeitgeber in Erwägung zu ziehenden Überbrückungsmaßnahmen gehöre auch die Einstellung einer Aushilfskraft auf unbestimmte Zeit, wobei der Arbeitgeber konkret darzulegen habe, weshalb ggf. die Einstellung einer Aushilfskraft nicht möglich oder nicht zumutbar sein solle.

b) In dieser Hinsicht genügt der Sachvortrag des Beklagten nicht den Anforderungen der zitierten Rechtsprechung, was die Klägerin zutreffend mit ihrer Revision rügt und auch schon in den Vorinstanzen geltend gemacht hat. Insofern fällt auf, daß der Beklagte unmittelbar nach Vorlage des ärztlichen Attestes vom 4. Februar 1997 zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses geschritten ist, nachdem der Personalrat bereits unter dem 18. Dezember 1996 zur beabsichtigten Kündigung angehört worden war, der seinerseits der Kündigung (nur) unter der Bedingung der Wiedereinstellung nach Genesung und außerdem der befristeten Einstellung einer Vertretung für ein Jahr zugestimmt hatte. Welche Überbrückungsmaßnahmen im Sinne der zitierten Rechtsprechung der Beklagte vor Ausspruch der Kündigung durchzuführen versucht hat, hat er nicht dargestellt.

Insbesondere ist nicht konkret vorgetragen, was der Beklagte unternommen hat, um vor der Kündigung – etwa der Anregung des Personalrates folgend – eine befristete oder unbefristete Einstellung einer Ersatzkraft ins Auge zu fassen. Der Beklagte hat sich vielmehr auf die pauschale Argumentation zurückgezogen, es sei nicht möglich gewesen, eine befristete qualifizierte Aushilfskraft zu gewinnen, die früheren Ankündigungen der Klägerin in der Anfangszeit ihrer Erkrankung hätten zu der verständlichen Reaktion geführt, daß keine Notwendigkeit für die Suche nach einer Ersatzkraft gesehen wurde, und die befristete Einstellung einer Ersatzkraft für die Klägerin sei kein gangbarer Weg, zumal dafür eine Einarbeitungszeit von drei bis sechs Monaten erforderlich sei. Auch wenn man mit dem Landesarbeitsgericht (Berufungsurteil S. 8) davon ausgeht, eine Vertretung der Klägerin sei nicht auf Dauer durch nur zum Teil fachlich ausgebildete Mitarbeiter oder durch Fremdvergabe zu gewährleisten gewesen, ist jedenfalls vom Beklagten nicht ersichtlich gemacht worden, daß zum Kündigungszeitpunkt die Einstellung einer Ersatzkraft zumindest vorübergehend nicht möglich war. So hat der Beklagte nicht einmal behauptet, daß und ggf. welche Anstrengungen er zwecks Einstellung einer qualifizierten Kraft – später erst ist mit Wirkung zum 1. März 1998 ein Bauamtsleiter eingestellt worden – unternommen hat.

c) Selbst wenn hierauf nicht entscheidend abgestellt wird, so hat der Beklagte des weiteren nicht verdeutlicht, wann die unerledigt gebliebenen Planungsaufgaben, wie sie oben wiedergegeben worden sind, an das Planungsbüro G GmbH vergeben worden sind, so daß nicht ersichtlich wird, ob die Kündigung vom 10. Februar 1997 nicht aufgrund einer derartigen Überbrückungsmaßnahme zumindest zeitlich noch hätte zurückgestellt werden können. Auf diesen Mangel hat bereits das Arbeitsgericht zutreffend hingewiesen. Der Beklagte ist insofern nicht auf den Vortrag der Klägerin eingegangen, sie habe zunächst für November 1996 mit einer Wiederaufnahme ihrer Arbeit gerechnet und dabei sei ausführlich die Möglichkeit einer Übertragung der Bauleitplanung an ein Planungsbüro, u.a. die G GmbH, besprochen worden, wobei sie zugesichert habe, das zu beauftragende Planungsbüro zu unterstützen, soweit ihr das möglich sei. Zumindest im Hinblick auf diesen Sachvortrag der Klägerin hätte der Beklagte verdeutlichen müssen, daß und warum zur Zeit der Kündigung Anfang Februar 1997 das Fehlen der Klägerin durch derartige Überbrückungsmaßnahmen – jedenfalls bis zum ersten Kündigungszeitpunkt nach der angekündigten nächsten ärztlichen Beurteilung im April 1997 – nicht mehr kompensierbar war. Der Beklagte beruft sich auf nicht zu vertretende Kosten, ohne sie zu spezifizieren, und zwar unter Berücksichtigung gegebenenfalls nicht mehr für die Klägerin anfallender Lohnfortzahlungskosten. Die Kündigung vom 10.Februar 1997 war demnach verfrüht: Sie war nicht die ultima ratio, also (noch) nicht durch Gründe in der Person der Klägerin bedingt, § 1 Abs. 2 KSchG. Der ultima-ratio-Grundsatz, der das gesamte Kündigungsrecht beherrscht, konkretisiert sich insoweit gerade bei der krankheitsbedingten Kündigung innerhalb des Prüfungsschritts, ob eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen vorliegt.

d) Es braucht daher nicht mehr geprüft zu werden, ob auch die Rüge der Revision durchgreift, das Berufungsgericht spreche fehlerhaft von einer unzumutbaren Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen (vgl. dazu Senatsurteile vom 29. Juli 1993 – 2 AZR 155/93 – AP Nr. 27, aaO, zu IV 3 der Gründe und vom 26. September 1991 – 2 AZR 132/91 – AP Nr. 28, aaO, zu III 3 c dd der Gründe).

__________

Vorinstanzen: LAG Potsdam, N 1 Ca 680/97, Urteil vom 21.08.1997; LAG Potsdam 8 Sa 8/98, 26.03.1998


Papierfundstellen:

Die Entscheidung BAG – 2 AZR 431/98 wird zitiert in:

  1. > BAG, 13.05.2015 – 2 AZR 565/14

  2. > BAG, 23.05.2013 – 2 AZR 120/12