BAG – 2 AZR 610/74

BAGE 27, 331    DB 1976, 969   

Kündigung ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13.11.1975, 2 AZR 610/74

Leitsätze des Gerichts

  1. Eine schriftliche Kündigung ist ausgesprochen im Sinne des BetrVG § 102 Abs. 1 S. 3, wenn das Kündigungsschreiben den Machtbereich des Arbeitgebers verlassen hat, zB das Kündigungsschreiben zur Post gegeben worden ist. Deshalb ist die Kündigung unwirksam, wenn in diesem Zeitpunkt weder dem Arbeitgeber die Stellungnahme des Betriebsrats vorliegt noch die Anhörungsfristen des BetrVG § 102 Abs. 2 verstrichen sind.
  2. Eine einseitig vom Arbeitgeber veranlaßte Verkürzung der gesetzlichen Anhörungsfristen des BetrVG § 102 Abs. 2 in Eilfällen ist grundsätzlich nicht möglich. Etwas anderes könnte bei betriebsbedingten Kündigungen allenfalls dann gelten, wenn sich die wirtschaftliche Lage des Betriebes plötzlich und unvorhergesehen derart verschlechtert, daß der sofortige Ausspruch von Kündigungen unabweisbar notwendig ist.

Tenor

  1. Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 25. September 1974 — 3 Sa 66/74 — aufgehoben.
  2. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 25. Februar 1974 — 11 Ca 53/74 — wird zurückgewiesen.
  3. Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung und der Revision.

 

Tatbestand

2 AZR 610/74 > Rn 1

Die 56 Jahre alte Klägerin zu 1) war seit 1948 als Kontoristin, der 55 Jahre alte schwerbehinderte Kläger zu 2) seit 1952 als kaufmännischer Angestellter in der Verwaltung des Werkes F der Beklagten beschäftigt. Beide Kläger haben monatlich 1.591,–DM brutto verdient. Die Beklagte, die sich mit der Herstellung von Schuhen befaßt, hat seit Mitte der 60iger Jahre mit Verlust gearbeitet.

2 AZR 610/74 > Rn 2

Am 12. Dezember 1973 beschloß der Aufsichtsrat der Beklagten, die Werke F und B im ersten Halbjahr 1974 stillzulegen, sofern Verhandlungen wegen der Übernahme des gesamten Unternehmens scheitern sollten. Die Geschäftsleitung der Beklagten wurde beauftragt, unverzüglich den Betriebsrat zu unterrichten und mit ihm wegen eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans zu verhandeln. Am Nachmittag des 12. Dezember 1974 unterrichtete der Geschäftsführer der Beklagten die Betriebsratsvorsitzenden der Werke F und B über die bevorstehenden Betriebsänderungen.

2 AZR 610/74 > Rn 3

Nachdem die Beklagte am 17. Dezember 1973 die Betriebsratsvorsitzenden beider Werke über den negativen Verlauf der Übernahmeverhandlungen unterrichtete hatte, überreichte die Geschäftsleitung der Beklagten am 17. Dezember beiden Betriebsratsvorsitzenden ein Schreiben vom selben Tage zusammen mit einer 51 Arbeitnehmer umfassenden Kündigungsliste. Diese Liste enthielt auch die Namen der beiden Kläger. Bei der Übergabe der Liste bat die Beklagte den Betriebsrat, zu den beabsichtigten Kündigungen umgehend schriftlich Stellung zu nehmen, weil die Kündigungen gegenüber Arbeitnehmern mit längeren Kündigungsfristen noch vor dem 31. Dezember 1973 ausgesprochen werden müßten.

2 AZR 610/74 > Rn 4

Am 19. und 21. Dezember 1973 verhandelten die Geschäftsleitung der Beklagten und die Betriebsräte der Werke F und B wegen eines Interessenausgleichs und eines Sozialplanes. Vom 22. Dezember 1973 bis zum 6. Januar 1974 waren bei der Beklagten Betriebsferien. Mit Schreiben vom 20. Dezember 1973 beantragte die Beklagte die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zu der zum 30. Juni 1974 beabsichtigten Kündigung des Klägers zu 2), die mit Bescheid vom 29. April und 22. Juli 1974 erteilt worden ist.

2 AZR 610/74 > Rn 5

Mit gleichlautenden Schreiben vom 20. Dezember 1973, die die Beklagte am 21. Dezember 1973 zur Post gab, kündigte sie den beiden Klägern zum 30. Juni 1974 wegen Betriebseinschränkungen. Die Klägerin zu 1) verweigerte am 22. Dezember, der Kläger zu 2) am 24. Dezember 1973 die Annahme der Kündigungsschreiben. Am 27. Dezember 1973 händigte ein Angestellter der Beklagten das Kündigungsschreiben dem Kläger zu 2) persönlich aus; am selben Tage wurde das Kündigungsschreiben der Klägerin zu 1) in ihren Wohnungsbriefkasten geworfen. Mit Schreiben vom 7. Januar 1974 teilte der Betriebsratsvorsitzende des Werkes F der Beklagten mit, daß sich der Betriebsrat aus zeitlichen Gründen sowie wegen Verhandlungen über einen Interessenausgleich mit den bevorstehenden Kündigungen nicht habe beschäftigen können.

2 AZR 610/74 > Rn 6

Die Kläger haben Klage erhoben mit dem Antrag festzustellen, daß ihre Arbeitsverhältnisse durch die Kündigungen vom 20. Dezember 1973 nicht aufgelöst worden seien. Hilfsweise haben sie beantragt, die Beklagte wegen Verletzung der §§ 111, 112 BetrVG zur Zahlung einer Abfindung zu verurteilen. Zur Begründung der Kündigungsschutzklage haben die Kläger im wesentlichen vorgetragen, der Betriebsrat sei vor Ausspruch der Kündigungen nicht ordnungsgemäß angehört worden. Die Beklagte habe die Kündigungsschreiben bereits vor Erhalt einer Stellungnahme des Betriebsrats und vor Ablauf der Wochenfrist des § 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG zur Post gegeben.

2 AZR 610/74 > Rn 7

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen und vorgetragen, der Betriebsratsvorsitzende des Werkes F habe schon vor Absendung der Kündigungsschreiben in einer Besprechung vom 18. Dezember 1973 gegenüber der Geschäftsleitung erklärt, die Beklagte werde von ihm wegen der beabsichtigten Kündigungen ein Schreiben ähnlichen, d.h. ablehnenden Inhalts erhalten, wie sie es bereits vom Betriebsratsvorsitzenden des Werkes B bekommen habe. Die Betriebsratsvorsitzenden seien auf die Eilbedürftigkeit im Zusammenhang mit den Kündigungen hingewiesen worden; es werde ein Mehraufwand von ca. 330.000,– DM entstehen, falls die Kündigungen gegenüber den länger beschäftigten Arbeitnehmern nicht vor dem 31. Dezember 1973 ausgesprochen werden könnten.

2 AZR 610/74 > Rn 8

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klagen abgewiesen. Mit der Revision begehren die Kläger die Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts, während die Beklagte um Zurückweisung der Revision bittet.

 

 

Entscheidungsgründe

2 AZR 610/74 > Rn 9

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts.

2 AZR 610/74 > Rn 10

Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, daß der Betriebsrat ordnungsgemäß im Sinne des § 102 BetrVG gehört worden sei. Die Wochenfrist des § 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG sei gewahrt, da die beiden Kläger, nachdem sie sich geweigert hätten, die Kündigungsschreiben anzunehmen, die Kündigungsschreiben tatsächlich erst nach Ablauf der Wochenfrist in Empfang genommen hätten. Auf die Frage, ob die Beklagte durch das Abfassen der Kündigungsschreiben bereits den Kündigungswillen abschließend zum Ausdruck gebracht habe, komme es nach der Entscheidung des Senats vom 28. Februar 1974 (2 AZR 455/73) nicht mehr an. Hilfsweise hat das Landesarbeitsgericht seine Entscheidung auf die Erwägung gestützt, wegen der besonderen Eilbedürftigkeit sei es dem Betriebsrat zuzumuten gewesen, innerhalb von drei Tagen über die beabsichtigten Kündigungen zu beschließen. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

2 AZR 610/74 > Rn 11

Zutreffend sind beide Instanzgerichte davon ausgegangen, daß mit der Bemerkung des Betriebsratsvorsitzenden des Werkes F vom 18. Dezember 1973 der Betriebsrat lediglich eine spätere Stellungnahme in Aussicht gestellt, aber noch nicht zu den beabsichtigten Kündigungen selbst Stellung genommen hat. In dieser — übrigens nicht der Form des § 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG entsprechenden — Äußerung des Betriebsratsvorsitzenden konnte die Beklagte nicht die von ihr mit Schreiben vom 17. Dezember 1973 erbetene schriftliche Stellungnahme des Betriebsrats sehen. Wie der Senat in seinem Urteil vom 28. Februar 1974 (AP Nr. 2 zu § 102 BetrVG 1972, zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmt, zu I 4 a der Gründe) ausgeführt hat, ist in einem Fall, in dem der Arbeitgeber innerhalb der Ausschlußfrist des § 102 Abs. 2 BetrVG eine Äußerung eines einzelnen Betriebsratsmitglieds, das auch der Vorsitzen de oder sein Stellvertreter sein kann, zur beabsichtigten Kündigung erhält, die Anhörung noch nicht vollendet, wenn der Arbeitgeber weiß oder nach den Umständen annehmen muß, daß die ihm mitgeteilte Ansicht durch eine entsprechende Stellungnahme (Beschluß) des zuständigen Gremiums nicht gedeckt ist. Aufgrund der Äußerung des Betriebsratsvorsitzenden vom 18. Dezember 1973 war gegenüber der Beklagten unmißverständlich klargestellt, daß sich der Betriebsrat des Werkes F noch nicht mit den anstehenden Kündigungen befaßt hatte. Das Anhörungsverfahren war daher am 18. Dezember 1973 noch nicht vollendet. Da der Betriebsrat seine mit Schreiben vom 17. Dezember 1973 erbetene schriftliche Stellungnahme erst mit Schreiben vom 7. Januar 1974 abgegeben hat, fehlt es im Streitfall an einer Stellungnahme des Betriebsrats, die geeignet hätte sein können, das Anhörungsverfahren vor Ablauf der einwöchigen Ausschlußfrist zu beenden.

2 AZR 610/74 > Rn 12

Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts führt der Umstand, daß die Kläger die Kündigungsschreiben nach vorheriger Annahmeverweigerung tatsächlich erst nach Ablauf der Wochenfrist des § 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG in Empfang genommen haben, nicht dazu, daß gemäß § 102 Abs. 2 Satz 2 BetrVG die Zustimmung des Betriebsrats als erteilt gilt.

2 AZR 610/74 > Rn 13

a) Eine Kündigung ist schon dann ohne Anhörung des Betriebsrats im Sinne des 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG ausgesprochen, wenn der Arbeitgeber seinen Kündigungswillen bereits vor der Stellungnahme des Betriebsrats oder vor dem Ablauf der in § 102 Abs. 2 BetrVG festgelegten Fristen verwirklicht (BAG vom 28. Februar 1974, aaO, zu I 4 b) aa) der Gründe). Eine schriftliche Kündigung ist in diesem Sinne ausgesprochen, wenn das Kündigungsschreiben den Machtbereich des Arbeitgebers verläßt; dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Arbeitgeber vor Abschluß des Anhörungsverfahrens das Kündigungsschreiben zur Post gibt (ebenso Söllner, Arbeitsrecht, 4. Aufl., § 21 V 5 (S.164), Dietz-Richardi, BetrVG, 5. Aufl., § 102 Anm. 34; a.A. Fitting-Auffarth, BetrVG, 11. Aufl., § 102 Anm. 7; Gnade-Kehrmann-Schneider, BetrVG, § 102 Anm. 6; Kraft, Gemeinschaftskommentar zum BetrVG, § 102 Anm. 9; Etzel, DB 1973, 1018).

2 AZR 610/74 > Rn 14

Bei einem Abstellen auf den Zeitpunkt der Abgabe der Kündigungserklärung wird dem Zweck des Anhörungsverfahrens am ehesten Rechnung getragen. Hat die Kündigung bereits den Machtbereich des Arbeitgebers verlassen, so ist auf dessen Seite der rechtsgeschäftliche Erklärungsvorgang beendet. Zu welchem Zeitpunkt die Kündigung dem Arbeitnehmer letztlich zugeht, ob vor oder nach einer Stellungnahme des Betriebsrates bzw. vor oder nach Ablauf der in § 102 Abs. 2 BetrVG festgelegten Fristen, ist für die Frage der ordnungsgemäßen Anhörung im Sinne des § 102 Abs. 1 BetrVG ohne Bedeutung. Entscheidend für die Unwirksamkeit der Kündigung ist in diesen Fällen der einseitige Abbruch des Anhörungsverfahrens durch den Arbeitgeber, der sich in der Absendung des Kündigungsschreibens offenbart.

2 AZR 610/74 > Rn 15

b) Unabhängig hiervon sind im Streitfall die Kündigungsschreiben vor dem Ablauf der Wochenfrist, die am 24. Dezember 1973 endete, den Klägern zugegangen: Die Klägerin zu 1) hat die Annahme am 22. Dezember, der Kläger zu 2) am 24. Dezember 1973 verweigert. Da die Kläger keine Gründe für die Annahmeverweigerung vorgetragen haben, ist der Klägerin zu 1) das Kündigungsschreiben am 22., dem Kläger zu 2) am 24. Dezember 1974 zugegangen; denn zugegangen ist eine Willenserklärung dann, wenn sie so in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, daß bei Annahme gewöhnlicher Verhältnisse damit zu rechnen war, daß er von ihr Kenntnis nehmen konnte (vgl. RGZ 50, 194; BGH NJW 1965, 965 (966)). Auch der Zugangszeitpunkt liegt daher — entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts — vor Ablauf der Wochenfrist des 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG.

2 AZR 610/74 > Rn 16

c) Bei dieser Rechtslage kommt es nicht darauf an, ob die Beklagte vor Ablauf der Wochenfrist ihren Kündigungswillen bereits abschließend gebildet hatte, wie das Arbeitsgericht angenommen hat. Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 28. Februar 1974 (aaO zu I 4 b) aa) der Gründe) zum Ausdruck gebracht, daß er dazu neigt, die frühere Rechtsprechung zum „abschließend gebildeten Kündigungswillen“ bei Anwendung des 102 BetrVG im Grundsatz nicht mehr zu verfolgen. Da es sich bei der Fassung des abschließenden Kündigungswillens um einen nur schwer festzustellenden inneren Vorgang handelt, sollte aus Gründen der Rechtssicherheit nicht auf dieses Merkmal abgestellt werden (vgl. auch Gester-Zachert, Das Arbeitsrecht der Gegenwart, Bd. 12, 1975, S.87 (91 f. zu II 1 c)). Die schriftliche Niederlegung des Kündigungsschreibens vor Abschluß des Anhörungsverfahrens führt daher nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, solange das Kündigungsschreiben selbst noch nicht den Machtbereich des Arbeitgebers verlassen hat. Vorher hat der Arbeitgeber nämlich seinen Kündigungswillen noch nicht verwirklicht.

2 AZR 610/74 > Rn 17

Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts kommt der Beklagten die Wochenfrist des § 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG auch nicht deshalb zugute, weil sie am 27. Dezember 1973 den Klägern das alte Kündigungsschreiben erneut ausgehändigt bzw. in den Briefkasten geworfen hat. Dieser Vorgang hätte nur dann Bedeutung, wenn er als Bestätigung der nichtigen Kündigungen vom 20. Dezember 1973 verstanden werden konnte. Das ist jedoch nicht der Fall.

2 AZR 610/74 > Rn 18

Die Bestätigung eines nichtigen Rechtsgeschäfts (vgl. § 141 BGB) setzt einen Bestätigungswillen, d.h. Kenntnis von der Fehlerhaftigkeit oder zumindest das Bewußtsein der möglichen Fehlerhaftigkeit, voraus (RGZ 138, 52 (56); BGHZ 11, 59 (60)). Fehlt dieses Bewußtsein, so kann eine Handlung nicht als Bestätigung des nichtigen Rechtsgeschäfts angesehen werden. Gegen das Vorhandensein eines Bestätigungswillens der Beklagten sprechen mehrere Umstände. In den beiden Kündigungsschreiben vom 20. Dezember 1973 geht die Beklagte unrichtigerweise von einer bereits erfolgten ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats aus. Die Beklagte hat nicht dargetan, daß sie am 27. Dezember 1973 Kenntnis von der Unrichtigkeit dieser Rechtsansicht hatte. Dafür, daß die Beklagte auch noch am 27. Dezember 1973 — nach dem Ende der am 24. Dezember 1973 abgelaufenen Wochenfrist — der Ansicht war, der Betriebsrat sei zu den Kündigungen ordnungsgemäß angehört worden, spricht, daß die Beklagte den Klägern das Kündigungsschreiben in der ursprünglichen Fassung ausgehändigt bzw. in den Briefkasten geworfen hat. Bei dieser Sachlage kann von einer Bestätigung der nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksamen Kündigung durch Aushändigung der alten Kündigungsschreiben nicht die Rede sein. Es fehlt der Bestätigungswille. Von einer neuen zweiten Kündigung kann unter diesen Umständen erst recht nicht gesprochen werden.

 

2 AZR 610/74 > Rn 19

Der Hilfserwägung des Landesarbeitsgerichts, es habe ein Eilfall vorgelegen und es sei dem Betriebsrat daher zuzumuten gewesen, innerhalb von drei Tagen zu der Kündigungsabsicht der Beklagten Stellung zu nehmen, vermag der Senat im Streitfall jedenfalls deshalb nicht zu folgen, weil es hier an der Eilbedürftigkeit gefehlt hat.

2 AZR 610/74 > Rn 20

a) In der Kommentar-Literatur ist streitig, ob der Arbeitgeber in Eilfällen bereits vor Ablauf der in 102 Abs. 2 BetrVG festgelegten Fristen eine Stellungnahme des Betriebsrats verlangen kann. Für eine Verkürzung der Fristen haben sich ausgesprochen Dietz-Richardi (BetrVG, 5. Aufl., § 102 Anm. 43), Meisel (Die Mitwirkung und Mitbestimmung des Betriebsrats in personellen Angelegenheiten, 4. Aufl., 1974, S. 160 f.), Stege-Weinspach (BetrVG, 2. Aufl., 1975, S. 390) und Erdmann-Jürging-Kammann (BetrVG § 102 Anm. 17). Den gegenteiligen Standpunkt vertreten Fitting-Auffarth-Kaiser (BetrVG, 11. Aufl., § 102 Anm. 6) und Kraft (Gemeinschaftskommentar zum BetrVG, § 102 Anm. 24). Die Meinungen im übrigen Schrifttum sind ebenfalls geteilt. Für eine Verkürzung der gesetzlichen Anhörungsfristen in Fällen der Eilbedürftigkeit haben sich ausgesprochen Adomeit (DB 1971, 2362), Schlochauer (RdA 1973, 157 (159)) und Meisel (DB 1972, 1629 und DB 1974, 140). Gegen eine Verkürzung der gesetzlichen Anhörungsfristen in Eilfällen sind Hanau (BB 1972, 453) und Kitzelmann (BUV 1972, 211). Das Arbeitsgericht Passau hat sich in einer Entscheidung vom 19. September 1972 (ARSt 1973, Nr. 154 S. 130) ebenfalls gegen eine Verkürzung der gesetzlichen Anhörungsfristen in Eilfällen ausgesprochen.

2 AZR 610/74 > Rn 21

b) Der Senat ist — vor allem aus Gründen der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit — der Ansicht, daß grundsätzlich eine einseitig vom Arbeitgeber veranlaßte Verkürzung der gesetzlichen Anhörungsfristen des 102 Abs. 2 BetrVG in Eilfällen nicht möglich ist.

2 AZR 610/74 > Rn 22

Aus den Gesetzgebungsmaterialien (vgl. BT-Drucks. VI/1786 S. 52) geht hervor, daß es sich bei den in § 102 Abs. 2 BetrVG festgelegten Fristen „um gesetzliche Ausschlußfristen handeln soll, innerhalb deren der Betriebsrat eventuelle Bedenken gegen eine in Aussicht genommene Kündigung gegenüber dem Arbeitgeber schriftlich geltend zu machen hat.“ Die Gesetzgebungsmaterialien enthalten keinen Hinweis, daß in Eilfällen eine Verkürzung der gesetzlichen Anhörungsfristen eintritt.

 

2 AZR 610/74 > Rn 23

Auch eine systematische Auslegung spricht gegen eine Abkürzung der Anhörungsfristen in den Fällen der Eilbedürftigkeit. Während der Gesetzgeber bei den sonstigen personellen Einzelmaßnahmen in § 100 BetrVG eine Sonderregelung für Eilfälle geschaffen hat, fehlt eine derartige Regelung für Kündigungen. Eine analoge Anwendung des § 100 BetrVG scheidet schon deshalb aus, weil keine Gesetzeslücke besteht. Im übrigen spricht gegen eine analoge Anwendung des § 100 BetrVG, wie Meisel (Die Mitwirkung und Mitbestimmung …, 4. Aufl., S. 157) dargelegt hat, die unterschiedliche Ausgestaltung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats.

2 AZR 610/74 > Rn 24

Eine grammatikalische Auslegung des § 102 Abs. 2 BetrVG führt ebenfalls nicht zu einer Verkürzung der gesetzlichen Anhörungsfrist in Eilfällen. Insbesondere kann nicht aus der Verwendung des Wortes „spätestens“ gefolgert werden, daß dem Arbeitgeber das Recht zustehen soll, die gesetzliche Ausschlußfrist durch einen einseitigen Willensakt in Eilfällen zu verkürzen. Durch die Verwendung des Wortes „spätestens“ sollte seitens des Gesetzgebers lediglich klargestellt werden, daß der Betriebsrat die gesetzlichen Anhörungsfristen nicht stets voll ausschöpfen muß. Andererseits sollte hierdurch zum Ausdruck gebracht werden, daß die Stellungnahme noch rechtzeitig ist, wenn sie erst am Ende der Wochenfrist erfolgt. Im übrigen hat der Gesetzgeber eine Verpflichtung zur unverzüglichen Stellungnahme innerhalb der gesetzlichen Anhörungsfrist nur bei der außerordentlichen Kündigung für erforderlich gehalten.

 

2 AZR 610/74 > Rn 25

Schließlich spricht auch eine teleologische Auslegung des § 102 Abs. 2 BetrVG gegen eine Verkürzung der gesetzlichen Anhörungsfristen in Eilfällen. Der Senat hat bereits in den Entscheidungen vom 28. März 1974 (AP Nr. 3 zu § 102 BetrVG 1972, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmt) und vom 4. August 1975 — 2 AZR 266/74 — (zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung und im Nachschlagewerk bestimmt) ausgeführt, daß sich das in § 102 Abs. 1 und 2 BetrVG geregelte Anhörungsverfahren in zwei aufeinanderfolgenden Verfahrensabschnitten vollzieht, die nach ihrem Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich voneinander abzugrenzen sind. Dabei ist von dem für das gesamte Betriebsverfassungsrecht geltenden Grundsatz auszugehen, nach dem der Betriebsrat seine gesetzlichen Aufgaben selbständig und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat. Soweit der Betriebsrat im Rahmen des Anhörungsverfahrens beteiligt ist, ist es seine Sache, ob und wie er tätig werden will. Der Arbeitgeber kann daher auch in Eilfällen grundsätzlich nicht befugt sein, eigenmächtig die dem Betriebsrat vom Gesetz eingeräumten Anhörungsfristen zu verkürzen. Die gegenteilige Ansicht führte dazu, daß der Arbeitgeber in der Lage wäre, das Anhörungsrecht des Betriebsrats durch eine zeitliche Beschneidung auszuhöhlen.

 

2 AZR 610/74 > Rn 26

Wie gerade der vorliegende Fall zeigt, ist der Betriebsrat wegen der Wahrnehmung anderer betriebsverfassungsrechtlicher Aufgaben (z.B. Sozialplan-Verhandlungen) zeitlich nicht immer in der Lage, innerhalb der ohnehin knapp bemessenen Wochenfrist sich mit einer Vielzahl von anstehenden Kündigungen im einzelnen zu befassen. Nach dem Sinn und Zweck des Anhörungsverfahrens soll es aber der autonomen Entscheidung des Betriebsrats überlassen bleiben, welche Maßnahmen (z.B. Anhörung der betroffenen Mitarbeiter) innerhalb der gesetzlichen Anhörungsfrist zu ergreifen sind und ob, wann und wie er tätig werden will. Eine Verkürzung der gesetzlichen Anhörungsfristen durch den Arbeitgeber würde selbst bei Eilfällen auf eine Einmischung des Arbeitgebers in die Amtsführung des Betriebsrats hinauslaufen. Außerdem würde eine für die Praxis unerfreuliche Rechtsunsicherheit entstehen, da es im Einzelfall nur schwer festzustellen wäre, ob wirklich ein Eilfall vorliegt und welche Anhörungsfrist als angemessen anzusehen wäre. Zu entscheiden wäre dann auch die Frage, ob die gesetzliche Zustimmungsfiktion im Falle einer Nichtäußerung bereits innerhalb der verkürzten Anhörungsfrist oder erst nach Ablauf der gesetzlichen Anhörungsfrist eingreift.

2 AZR 610/74 > Rn 27

c) Unabhängig von diesen Erwägungen ist im Streitfall eine Eilbedürftigkeit, die zur Verkürzung der gesetzlichen Anhörungsfrist führen könnte, nicht anzuerkennen. Die schwierige Wirtschaftslage der Beklagten zeichnete sich langfristig, und zwar nach dem Beklagtenvortrag schon seit der Mitte der 60iger Jahre ab. Ein Eilfall könnte demgegenüber bei betriebsbedingten Kündigungen nur dann angenommen werden, wenn sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens plötzlich und unvorhergesehen (z.B. durch den Konkurs des einzigen Großkunden derart verändert, daß der sofortige Ausspruch von Kündigungen unabweisbar notwendig ist. Im Streitfall war es Sache der Beklagten, durch eine langfristige unternehmenspolitische Planung rechtzeitig die geeigneten unternehmerischen Maßnahmen zu ergreifen. Verspätete Unternehmensentscheidungen können nicht dazu führen, den gesetzlichen Handlungsspielraum des Betriebsrats in zeitlicher Hinsicht zu beschneiden. In Übereinstimmung mit dem Arbeitsgericht ist im Streitfall das Vorliegen eines Eilfalles schließlich auch deshalb zu verneinen, weil die Beklagte die Möglichkeit hatte, die Kündigungsschreiben auch noch nach Ablauf der Wochenfrist des 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG an die betroffenen Arbeitnehmer zu übersenden (z.B. durch Eilbrief oder Boten), wie es ja auch tatsächlich am 27. Dezember 1973 im Falle der beiden Kläger geschehen ist.

2 AZR 610/74 > Rn 28

Die Kündigung der Kläger ist nach alledem entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts war daher aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 25. Februar 1974 zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.