BAG – 5 AZR 504/06

Schriftformklausel  – Konkludente Vertragsänderung – Überstunden

Bundesarbeitsgericht,  Urteil vom 25.04.2007, 5 AZR 504/06
Tenor

  1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 4. Mai 2006 – 8 Sa 2046/05 – aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

 
Tatbestand
Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche für die Zeit von November 2004 bis Februar 2005 unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs.
Die Klägerin ist seit 1988 bei der Beklagten als gewerbliche Hilfskraft im Buch- und Zeitschriftengroßvertrieb beschäftigt. Im Arbeitsvertrag vom 26. Mai 1992 heißt es ua.:

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Arbeitszeit

Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt 28,5 Stunden wöchentlich. Der Arbeitnehmer wird an folgenden Wochentagen Mo… – Di… u Fr… von 8.00 bis 13.00, Do… und Mi… von 8.00 bis 16.00 Uhr beschäftigt.

Der Arbeitnehmer erklärt sich insbesondere bei der Einführung von flexibler Arbeitszeit mit einer anderen, variablen Verteilung der Arbeitszeit einverstanden.

§ 14

Sonstige Bestimmungen

Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages sind, auch wenn sie bereits mündlich getroffen wurden, nur wirksam, wenn sie schriftlich festgelegt und von beiden Vertragspartnern unterschrieben worden sind.

…”
Nach § 12 des Arbeitsvertrags und auf Grund Allgemeinverbindlichkeit fand auf das Arbeitsverhältnis der Manteltarifvertrag für Arbeitnehmer im Groß- und Außenhandel Nordrhein-Westfalen vom 9. Juli 1997 (im folgenden MTV) Anwendung. Seit etwa November 1998 beschäftigte die Beklagte die Klägerin in einem Umfang, der die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit überschritt. Für den Zeitraum von März bis August 2004 ergab sich an 98 Arbeitstagen eine Arbeitszeit von 760,7 Stunden. Ab September 2004 beschäftigte die Beklagte die Klägerin in geringerem Umfang. Daraufhin forderte die Klägerin mit Schreiben vom 23. November 2004 die Heranziehung zur Arbeit im Umfang von monatlich 167 Stunden. Im November 2004 vergütete die Beklagte bei einem Bruttostundenlohn von 9,22 Euro 138,74 Stunden, im Dezember 2004 155,27 Stunden, im Januar 2005 131,39 Stunden und im Februar 2005 101,76 Stunden.
Mit Schreiben vom 14. März 2005 machte die Klägerin die monatliche Differenz zwischen der gezahlten Vergütung und der sich bei einer Vollzeitbeschäftigung von monatlich 167 Stunden ergebenden Vergütung geltend. Mit ihrer der Beklagten am 22. April 2005 zugestellten Klage hat sie Zahlung der Differenzbeträge in Höhe von insgesamt 1.298,56 Euro brutto verlangt. Sie hat die Ansicht vertreten, die Parteien hätten durch die langjährige Praxis die vertragliche Arbeitszeitvereinbarung abgeändert.
Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.298,56 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach bestimmter zeitlicher Staffelung zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Parteien hätten das Arbeitsverhältnis nicht durch schlüssiges Verhalten in ein Vollzeitarbeitsverhältnis umgewandelt. Einer konkludenten Vereinbarung stehe auch die Schriftformklausel des Arbeitsvertrags entgegen. Zudem habe die Klägerin ihre Arbeitsleistung nicht in einer den Annahmeverzug begründenden Weise angeboten.
Das Arbeitsgericht hat der Klage für Februar 2005 in Höhe von 112,85 Euro brutto nebst Zinsen stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Gegen diese Entscheidung hat allein die Klägerin Berufung eingelegt. Sie hat in der Berufungsinstanz ihren Forderungen nicht mehr pauschal für jeden Monat 167 Arbeitsstunden zu Grunde gelegt, sondern jeweils die Arbeitszeit auf der Basis des Vorjahreszeitraums in Ansatz gebracht und über den erstinstanzlich zugesprochenen Betrag hinaus weitere 1.163,94 Euro brutto nebst Zinsen verlangt. Das Landesarbeitsgericht hat diesem Antrag stattgegeben und die Revision zugelassen, mit der die Beklagte ihren Abweisungsantrag weiterverfolgt.
 
 
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Ob Ansprüche aus Annahmeverzug gem. §§ 611, 615 BGB bestehen, kann nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht abschließend beurteilt werden.
I. Aus dem bisherigen Vortrag der Parteien lässt sich die stillschweigende Vereinbarung einer bestimmten wöchentlichen Arbeitszeitdauer nicht mit hinreichender Sicherheit herleiten.
1. Das Landesarbeitsgericht hat in dem tatsächlichen Verhalten der Parteien zwei übereinstimmende, auf den Abschluss eines Vollzeitarbeitsverhältnisses gerichtete Willenserklärungen gesehen. Die im schriftlichen Arbeitsvertrag enthaltene Regelung der wöchentlichen Arbeitszeit von 28,5 Stunden sei stillschweigend in eine Beschäftigung mit der betriebsüblichen und tariflichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden abgeändert worden.
2. Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen.
a) Die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer vom Arbeitgeber – auch längere Zeit – unter deutlicher Überschreitung der vertraglich vorgesehenen Arbeitszeit eingesetzt wird, ergibt für sich genommen noch keine Vertragsänderung. Bei dem Arbeitseinsatz handelt es sich um ein tatsächliches Verhalten, dem nicht notwendig ein bestimmter rechtsgeschäftlicher Erklärungswert in Bezug auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses zukommt. Vielmehr ist auf die Absprachen abzustellen, die dem erhöhten Arbeitseinsatz zugrunde liegen. Dazu zählen auch die betrieblichen Anforderungen, die vom Arbeitgeber gestellt und vom Arbeitnehmer akzeptiert werden. Ohne derartige zumindest konkludente Erklärungen des Arbeitgebers ist der konkrete Arbeitseinsatz nicht denkbar, es sei denn, der Arbeitnehmer arbeitet eigenmächtig. Die Annahme einer dauerhaften Vertragsänderung mit einer erhöhten regelmäßigen Arbeitszeit setzt die Feststellung entsprechender Erklärungen der Parteien voraus. Dafür kann neben anderen Umständen von Bedeutung sein, um welche Art von Arbeit es sich handelt, wie sie in die betrieblichen Abläufe integriert ist und in welcher Weise die Arbeitszeit hinsichtlich Dauer und Lage geregelt bzw. ausgedehnt wird. In diesem Sinne hat der Senat für die Bestimmung der regelmäßigen vertraglichen Arbeitszeit auf das gelebte Rechtsverhältnis als Ausdruck des wirklichen Parteiwillens abgestellt (21. November 2001 – 5 AZR 296/00 – BAGE 100, 25, 32 ff.; 9. Juli 2003 – 5 AZR 610/01 – EEK 3121, zu II 3 der Gründe).
b) Diesen Grundsätzen werden die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts nicht in vollem Umfang gerecht.
aa) Das Landesarbeitsgericht hat keine eindeutigen konkludenten Erklärungen festgestellt. Allein das mehrjährige, aber nicht näher spezifizierte Überschreiten der arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitszeit und die auf einen Halbjahreszeitraum bezogene durchschnittliche Beschäftigungsdauer eines Vollzeitarbeitnehmers ergeben keine Vertragsänderung, auch wenn die Klägerin die Arbeit widerspruchslos verrichtet hat. Vor allem ist das Verhalten der Parteien, aus dem sich schlüssige Erklärungen ergeben könnten, nicht näher festgestellt. Dasselbe gilt für die Anforderungen und die Umstände, unter denen die Klägerin ihre Arbeit geleistet hat. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, es habe in jedem Falle die vollständige Erledigung des aktuellen Arbeitsanfalls gewährleistet sein müssen, ist weder sachlich belegt noch hinreichend genau und lässt deshalb keinen eindeutigen Schluss auf bestimmte Erklärungen der Parteien zu.
bb) Allerdings spricht entgegen der Auffassung der Beklagten nichts für die Vereinbarung einer Abrufarbeit nach § 12 TzBfG. Hierfür hat die Beklagte keinen Vortrag erbracht. Sie hat nicht einmal dargelegt, die Klägerin sei in einem bestimmten Rahmen variabel eingesetzt worden. Vorgetragen ist nur eine monatlich schwankende Arbeitszeit. Mit der durchaus ungewöhnlichen Abrede einer variablen Dauer der Arbeitszeit musste die Klägerin auch nicht rechnen.
cc) Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass es sich bei der gegenüber der schriftlich vereinbarten Arbeitszeitdauer zusätzlich geleisteten Arbeit nicht insgesamt um Überstunden im Sinne einer Überschreitung der individuellen regelmäßigen Arbeitszeit gehandelt hat. Überstunden werden wegen bestimmter besonderer Umstände zusätzlich geleistet. Leistet der Arbeitnehmer ständig eine bestimmte Arbeitszeit, kann von Überstunden nicht gesprochen werden (BAG 7. November 2002 – 2 AZR 742/00 – BAGE 103, 265, 276; Senat 9. Juli 2003 – 5 AZR 610/01 – EEK 3121, zu II 2b cc der Gründe). Auch bei einer unregelmäßigen Arbeitszeit hat der Arbeitgeber darzulegen und zu beweisen, inwieweit Überstunden vorliegen (Senat 9. Juli 2003 – 5 AZR 610/01 – aaO, zu II 3e der Gründe).
3. Eine konkludente Vertragsänderung zum Umfang der Arbeitszeit wäre nicht nach § 14 des Arbeitsvertrags vom 26. Mai 1992 iVm. § 125 Satz 2 BGB unwirksam. Die vereinbarte Schriftform kann formlos abbedungen werden, selbst wenn die Parteien nicht an die Formvorschrift gedacht haben (BAG 24. Juni 2003 – 9 AZR 302/02 – BAGE 106, 345, 351). Eine Schriftformklausel, die nicht nur materielle Vertragsänderungen, sondern ausdrücklich auch Änderungen der Schriftformklausel selbst erfasst (vgl. hierzu BAG 24. Juni 2003 – 9 AZR 302/02 – aaO), liegt nicht vor. Im Übrigen handelt es sich bei dem Arbeitsvertrag vom 26. Mai 1992 um Allgemeine Geschäftsbedingungen nach § 305 Abs. 1 BGB (vgl. Senat 1. März 2006 – 5 AZR 363/05 – AP BGB § 308 Nr. 3 = EzA TVG § 4 Tariflohnerhöhung Nr. 48, zu II 2 der Gründe). Nach § 305b BGB haben individuelle Vertragsabreden Vorrang vor Allgemeinen Geschäftsbedingungen. § 305b BGB stellt nicht darauf ab, ob die Individualvereinbarung ausdrücklich oder stillschweigend getroffen wurde. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Parteien eine Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen beabsichtigten oder sich der Kollision mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen überhaupt bewusst waren (BGH 21. September 2005 – XII ZR 312/02 – BGHZ 164, 133, 136).
II. Sofern das Landesarbeitsgericht wieder zu der Vereinbarung einer Vollzeitarbeit oder jedenfalls zu einem Teilzeitarbeitsverhältnis mit erhöhter Arbeitszeit kommt, sind die Voraussetzungen des Annahmeverzugs nach den §§ 293 ff. BGB zu prüfen.
1. Der besondere Fall des § 296 BGB (Entbehrlichkeit des Angebots) liegt nicht vor. Im ungekündigt bestehenden Arbeitsverhältnis kann anders als nach Ausspruch einer Kündigung regelmäßig nicht angenommen werden, der Arbeitgeber habe eine vorzunehmende Handlung nicht rechtzeitig vorgenommen (vgl. Senat 7. Dezember 2005 – 5 AZR 19/05 – AP BGB § 615 Nr. 114 = EzA BGB 2002 § 615 Nr. 12, zu I 2 der Gründe). Macht der Arbeitgeber von einem vermeintlichen Recht Gebrauch, die Arbeitszeitdauer flexibel zu bestimmen, kommt § 296 BGB nicht zur Anwendung. Vielmehr muss der Arbeitnehmer die Arbeit anbieten.
2. Nach § 294 BGB muss die Arbeitsleistung dem Arbeitgeber so, wie sie zu bewirken ist, tatsächlich angeboten werden. Das gilt auch bei Verzug mit der Annahme eines Teils der Arbeitsleistung (BAG 7. November 2002 – 2 AZR 742/00 – BAGE 103, 265, 269 f.). Bestehen Meinungsverschiedenheiten über den zeitlichen Umfang der zu erbringenden Arbeit, braucht der Arbeitnehmer nicht erneut am Arbeitsplatz zu erscheinen. Es genügt, dass er erklärt, er wolle in bestimmtem Umfang über die angeordnete Arbeitszeit hinaus arbeiten. Dagegen stellen das Erscheinen am Arbeitsplatz und die Arbeitsaufnahme als solche nicht ohne Weiteres ein tatsächliches Angebot der Arbeitsleistung im Umfang der vollen vertraglichen Arbeitszeitdauer dar.
3. Unter den Voraussetzungen des § 295 BGB genügt ein wörtliches Angebot. Es liegt nahe, ist aber bisher nicht festgestellt, dass die Beklagte zumindest konkludent erklärt hat, sie werde eine weitergehende als die tatsächlich erbrachte Leistung der Klägerin nicht annehmen. Das Schreiben der Klägerin vom 23. November 2004 stellt ein wörtliches Angebot dar. Dem Zeitpunkt seines Zugangs muss das Landesarbeitsgericht gegebenenfalls ebenso nachgehen wie dem Vortrag der Klägerin, sie habe ihre Arbeitskraft “stets für eine Vollzeitkraft” zur Verfügung gestellt.
III. Ansprüche der Klägerin dürften nicht nach § 15 Ziff. 2 und 4 MTV verfallen sein. Die Klägerin hat ihre Ansprüche mit den Schreiben vom 23. November 2004 und 14. März 2005 ordnungsgemäß und rechtzeitig schriftlich geltend gemacht, wenn von dem zeitnahen Zugang beider Schreiben ausgegangen werden kann. Die Klageerhebung erfolgte sodann bereits im April 2005.
 
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Vorinstanzen:
LAG Hamm,  Urteil vom 04.05.2006,  8 Sa 2046/05
ArbG Bielefeld,  Urteil vom 18.10.2005, 2 Ca 1312/05
 
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Fundstellen:
NZA 2007, 801