BAG – 2 AZR 324/85

Verdachtskündigung – Anhörung des Betriebsrats

Bundesarbeitsgericht,  Urteil vom 03.04.1986, 2 AZR 324/85
Leitsätze des Gerichts

Teilt der Arbeitgeber dem Betriebsrat mit, er beabsichtige dem Arbeitnehmer wegen einer nach dem geschilderten Sachverhalt für nachgewiesen erachteten Straftat fristlos und vorsorglich ordentlich zu kündigen, und stützt später die Kündigung bei unverändert gebliebenem Sachverhalt auch auf den Verdacht dieser Straftat, so ist der nachgeschobene Kündigungsgrund der Verdachtskündigung wegen insoweit fehlender Anhörung des Betriebsrates im Kündigungsschutzprozeß nicht zu verwerten.

 
Tatbestand
Die Klägerin ist seit Mai 1977 als Sachbearbeiterin in der Debitorenbuchhaltung des von der Beklagten betriebenen Großversandhauses in F in Bayern gegen ein Monatsgehalt von zuletzt 2.278,– DM beschäftigt. Mit Schreiben vom 23. August 1983 sprach ihr die Beklagte eine fristlose und mit einem weiteren Schreiben vom 26. August 1983 vorsorglich eine ordentliche Kündigung aus. Beiden Kündigungen lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin hielt sich am 16. August 1983 gegen 16.20 Uhr in der Kosmetikabteilung des von der Beklagten in N, A Straße betriebenen Kaufhauses auf. Sie nahm dort einen Lippenstift zum Kaufpreis von 9,– DM und ging anschließend in die Uhrenabteilung. Dort fragte sie nach dem Weg zur Elektroabteilung, weil sie dort Ersatzbürsten für ihre elektrische Zahnbürste kaufen wollte. Zu diesem Zeitpunkt hielt sie den Lippenstift noch in der linken Hand. Auf dem Weg in die im Kellergeschoß befindliche Elektroabteilung steckte sie den Lippenstift in ihre Rocktasche. In der Elektroabteilung fragte sie erfolglos nach Ersatzbürsten und verließ anschließend über das Erdgeschoß das Warenhaus. Unmittelbar danach wurde sie von einem Hausdetektiv der Beklagten, der sie seit ihrem Aufenthalt in der Kosmetikabteilung beobachtet hatte, angehalten. In einem nachfolgenden Gespräch räumte die Klägerin ein, den Lippenstift nicht bezahlt zu haben.
In einem an die Beklagte gerichteten, undatierten Schreiben nahm die Klägerin zu der Angelegenheit im wesentlichen wie folgt Stellung:
Sie habe den in der Kosmetikabteilung an sich genommenen Lippenstift gemeinsam mit den Ersatzbürsten, die sie in der Elektroabteilung habe kaufen wollen, bezahlen wollen, und sei deshalb mit dem Lippenstift in der Hand in das Kellergeschoß gegangen. Sie habe in den Händen außerdem ihren Betriebsausweis sowie eine Ersatzbürste als Muster gehalten. Da sie diese Gegenstände beim Suchen in der Elektroabteilung behindert hätten, habe sie Lippenstift und Einkaufsschein in ihre Rocktasche gesteckt mit dem Gedanken, beim Bezahlen beides vorzulegen. Nachdem sie vergeblich nach passenden Ersatzbürsten gesucht habe, habe sie das Kaufhaus in Gedanken an einen für 17.00 Uhr verabredeten Termin mit ihrem Mann verlassen. An den Lippenstift habe sie nicht mehr gedacht.
Mit Schreiben vom 17. August 1983 bat die Beklagte den Betriebsrat, zu einer beabsichtigten fristlosen Kündigung der Klägerin Stellung zu nehmen. Zur Begründung führte sie an, nach dem als Anlage beigefügten Bericht des Betriebsschutzes habe die Klägerin am Spätnachmittag des 16. August 1983 im Warenhaus A Straße einen Lippenstift entwendet. Mit Schreiben vom selben Tag bat sie vorsorglich auch um Stellungnahme zu einer auf denselben Grund gestützten fristgerechten Kündigung. Mit Schreiben vom 22. August 1983 stimmte der Betriebsrat den beabsichtigten Kündigungen nicht zu, weil die Klägerin glaubhaft erklärt habe, daß sie den Lippenstift sehr wohl zunächst in ihre Rocktasche gesteckt und dann aus Gedankenlosigkeit das Warenhaus verlassen habe, da sie den anderen Artikel (Ersatzbürsten) nicht vorgefunden habe.
Mit Schreiben vom 23. August 1983, das die Klägerin am selben Tag erhalten hat, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos mit folgender Begründung:

„der Vorfall vom 16.8.1983 im Warenhaus A – Straße, über den wir uns am 17.8.1983
ausführlich unterhielten, beinhaltete – rein arbeitsrechtlich gesehen – einen groben Vertrauensmißbrauch gegenüber unserer Firma und somit gegenüber Ihrem Arbeitgeber.

Es ist unstreitig, daß Sie den Lippenstift mit Kaufpreis von DM 9,–, den Sie zunächst in Ihrer Hand hielten, später in Ihre Rocktasche steckten. Nach dem von Ihnen erwähnten Verkaufsgespräch gingen Sie durch das Haus und verließen es, obgleich Sie an mehreren Kassen vorbeigingen, ohne zu zahlen.

Sowohl vor dem Haus angesprochen, wie auch später, haben Sie diese Tatsache eingestanden. Durch Ihre Verhaltensweise ist es für uns unzumutbar geworden, Sie weiterhin, nicht einmal bis zum Ablauf ihrer Kündigungsfrist, also zum 31.12.1983, zu beschäftigen. Sie haben durch Ihr grob treuwidriges Verhalten das Vertrauen zerstört…“

Mit Schreiben vom 26. August 1983 sprach die Beklagte der Klägerin aus demselben Grund vorsorglich eine ordentliche Kündigung zum 31. Dezember 1983 aus.
Gegen beide Kündigungen wendet sich die Klägerin mit der vorliegenden Klage. Sie hat im wesentlichen auf ihre schriftliche Stellungnahme verwiesen und beantragt festzustellen,

daß ihr Arbeitsverhältnis mit der Beklagten weder durch die fristlose Kündigung vom 23. August 1983 noch durch die ordentliche Kündigung vom 26. August 1983 zum 31. Dezember 1983 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, die Klägerin habe den Lippenstift bewußt widerrechtlich an sich genommen. Als sie am 16. August 1983 in der Uhrenabteilung eine Verkäuferin nach der Elektroabteilung gefragt habe, sei dem Hausdetektiv aufgefallen, daß sie in der zur Faust geballten linken Hand eine Art glitzernden Stift gehalten habe. Auf dem Weg in die Elektroabteilung habe sich die Klägerin mehrfach in Richtung Treppe umgedreht. Auf ihrem Weg von dieser Abteilung zum Ausgang des Warenhauses sei sie im Erdgeschoß noch an mehreren Kassen vorbeigekommen, ohne zu bezahlen. Nach Verlassen des Warenhauses habe sie auf die Frage des Detektivs, ob sie nicht etwas vergessen habe, mit den Schultern gezuckt und keine Erklärung abgegeben. Nachdem der Detektiv ihr gesagt habe, daß sie einen Lippenstift eingesteckt habe, habe sie diesen aus der Rocktasche gezogen. Sie habe erklärt, sie habe ihn zusammen mit einem weiteren Kauf in der Elektroabteilung bezahlen wollen. Mit dieser Einlassung habe sie sich in späteren Unterredungen mit dem Angehörigen des Betriebsschutzes und ihrer Personalsachbearbeiterin in Widersprüche verwickelt, die ihre Glaubwürdigkeit so erschütterten, daß von einem vorsätzlichen Handeln ausgegangen werden müsse.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Es hat nicht für bewiesen erachtet, daß die Klägerin den Lippenstift gestohlen habe, und weiter ausgeführt, die Beklagte könne beide Kündigungen auch nicht auf den Verdacht einer strafbaren Handlung stützen, weil es an einem zu ihrer Rechtfertigung erforderlichen dringenden, durch Tatsachen objektiv begründeten Tatverdacht fehle, der der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur innerhalb der ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar mache.
In der Berufungsinstanz hat die Beklagte gerügt, das Arbeitsgericht habe eine fehlerhafte Beweiswürdigung vorgenommen. Die fristlose, jedenfalls aber die ordentliche Kündigung sei zumindest unter dem Gesichtspunkt der Verdachtskündigung wirksam.
Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die Klägerin hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.
 
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
I. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Kündigungen könnten nicht auf den Vorwurf des Diebstahls gestützt werden, weil nicht nachgewiesen sei, daß die Klägerin den Lippenstift habe stehlen wollen. Diese Würdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Zutreffend sind beide Vorinstanzen davon ausgegangen, daß auch die rechtswidrige und schuldhafte Entwendung einer im Eigentum des Arbeitgebers stehenden Sache von geringem Wert durch den Arbeitnehmer an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB abzugeben (Senatsurteil vom 17. Mai 1984 – 2 AZR 3/83 – AP Nr. 14 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung). Dies gilt auch, wenn der Arbeitnehmer den Diebstahl außerhalb seines Beschäftigungsbetriebes und der Arbeitszeit in einem anderen, räumlich entfernten Betrieb des Arbeitgebers begangen hat, wie der Senat in dem Urteil vom 20. September 1984 (- 2 AZR 633/82 – AP Nr. 80 zu § 626 BGB) entschieden hat, dem ein insoweit gleichgelagerter Fall zugrunde lag.
2. Die Revision greift die Würdigung des Berufungsgerichts, der Klägerin könne eine Entwendungsabsicht nicht nachgewiesen werden, mit Verfahrensrügen an, die sämtlich nicht durchgreifen.
Gemäß § 286 ZPO hat der Tatrichter sich seine Überzeugung darüber, ob eine streitige Behauptung wahr ist oder nicht, unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer durchgeführten Beweisaufnahme zu bilden. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Würdigung des Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme ist für die Revisionsinstanz gemäß § 561 ZPO bindend. Das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob die Würdigung des Berufungsgerichts möglich ist, nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt und die Revision zulässige und begründete Verfahrensrügen erhoben hat (BAG Urteil vom 20. März 1958 – 2 AZR 60/55 – = AP Nr. 3 zu § 580 ZPO). Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Annahme des Berufungsgerichts, der Klägerin sei eine Entwendungsabsicht nicht nachzuweisen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Hiervon hat sich der Senat nach eingehender Prüfung überzeugt. Er sieht deshalb gem. § 565 a ZPO von einer umfassenden Begründung ab und beschränkt sich auf folgende Ausführungen:
a) Das Berufungsgericht hat geprüft, ob aus dem Sachvortrag der Beklagten zu folgern sei, daß die Klägerin den Lippenstift nach der Entnahme aus dem Regal zunächst in ihrer zur Faust geballten Hand versteckt habe, und dies ein zusätzliches Indiz für eine Entwendungsabsicht darstelle. Es hat dies mit der Begründung verneint, daß der Detektiv bei der Beklagten eine Art glitzernden Stifts gesehen habe, der Stift also nicht in der Hand versteckt gewesen sei. Das Berufungsgericht ging hier davon aus, daß der Lippenstift auch nach der Darstellung der Beklagten für Dritte sichtbar gewesen war und deshalb auch eine solche Verhaltensweise der Klägerin nicht zwingend dafür spricht, sie habe die Wegnahme von Anfang an verheimlichen wollen. Diese Würdigung ist möglich und deshalb für das Revisionsgericht bindend. Sie ist entgegen der Ansicht der Revision nicht deshalb widersprüchlich, weil sich die Beobachtung des Detektivs auch damit erklären ließe, daß der Stift wegen seiner Größe oder Eigenart nicht vollständig in der Faust habe verborgen werden können. Damit zeigt die Revision nur eine mögliche, nicht aber eine zwingende anderweitige Würdigung auf. Die Rüge, das Berufungsgericht hätte den Detektiv als Zeugen vernehmen müssen, greift jedenfalls deshalb nicht durch, weil das Berufungsgericht den unter Beweis gestellten Vortrag der Beklagten als richtig unterstellt und hieraus nur andere Schlüsse als die Beklagte gezogen hat.
b) Einen unzulässigen Angriff gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts stellt die Rüge der Revision dar, das von der Beklagten unter Beweis gestellte Verhalten der Klägerin auf die Vorhaltungen des Detektivs nach Verlassen des Warenhauses lasse eindeutige Rückschlüsse auf eine Entwendungsabsicht zu. Das Berufungsgericht hat auch zu diesem Gesichtspunkt den Vortrag der Beklagten als richtig unterstellt und angenommen, ein solches Verhalten lasse sich auch dann erklären, wenn die Klägerin die Zahlung des Lippenstifts versehentlich vergessen habe. Diese Schlußfolgerung ist möglich und liegt deshalb in dem der revisionsgerichtlichen Nachprüfung verschlossenen Gebiete der tatrichterlichen Würdigung.
c) Gleiches gilt für den Vortrag der Revision, allein die objektiven Tatsachen (Rücknahme und Einstecken des Lippenstifts ohne Bezahlung) sprächen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für eine Entwendungsabsicht, und ihre Würdigung dürfe nicht davon beeinflußt sein, daß es sich um einen geringwertigen Gegenstand handele. Das Arbeitsgericht hat für seine vom Berufungsgericht übernommene Würdigung angeführt, daß die Klägerin, wie unstreitig ist, in der Elektroabteilung noch Ersatzbürsten kaufen wollte. Darin wurde ein einleuchtender Grund dafür gesehen, daß die Klägerin den Lippenstift zunächst nicht bezahlt hatte, und deshalb ihre Einlassung für glaubwürdig erachtet, sie habe ihn zusammen mit den Ersatzbürsten bezahlen wollen, vor der Suche nach diesen in die Rocktasche gesteckt und später vergessen. Damit haben die Vorinstanzen bei der Feststellung des subjektiven Tatbestandes die besonderen Umstände des konkreten Falles berücksichtigt. Diese lassen jedoch eine von der Indizwirkung des objektiven Tatbestandes (Wegnahme ohne Bezahlung) abweichende Würdigung zu. Auch der Umstand, daß es sich um einen geringwertigen Gegenstand handelt, konnte bei der Beurteilung der subjektiven Tatseite berücksichtigt werden. Nach der Lebenserfahrung kann davon ausgegangen werden, daß die Mitnahme eines wertvollen Gegenstandes ohne Bezahlung nachhaltiger im Gedächtnis haftet.
II. Auf den Verdacht eines Diebstahls können die Kündigungen bereits deshalb nicht gestützt werden, weil der Betriebsrat zu diesem Kündigungsgrund nicht gehört worden ist. Auf die von der Revision angegriffene Würdigung des Berufungsgerichts, es bestehe auch kein die Kündigungen rechtfertigender Tatverdacht, kommt es deshalb nicht an.
1. a) Eine Verdachtskündigung liegt nur dann vor, wenn und soweit der Arbeitgeber seine Kündigung damit begründet, gerade der Verdacht eines (nicht erwiesenen) strafbaren bzw. vertragswidrigen Verhaltens habe das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zerstört (ständige Rechtspr. des BAG seit BAG 16, 72, 81 = AP Nr. 13 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung, zu I 3 b der Gründe; Senatsurteile vom 22. September 1977 – 2 AZR 722/75 – zu I 2 a der Gründe; vom 2. Oktober 1977 – 2 AZR 416/76 – zu III 3 a der Gründe sowie vom 30. Juni 1983 – 2 AZR 540/81 – zu III 1 der Gründe; Urteile des Siebten Senats vom 10. September 1982 – 7 AZR 201/80 – zu IV der Gründe; vom 20. Januar 1984 – 7 AZR 143/82 – zu II 2 der Gründe – sowie vom 23. März 1984 – 7 AZR 323/82 – zu III 2 a der Gründe; sämtlich nicht veröffentlicht).
Um eine Verdachtskündigung handelt es sich somit nicht, wenn der Arbeitgeber, obgleich er nur einen Verdacht hegt, die Verfehlung des Arbeitnehmers als sicher hinstellt und mit dieser Begründung die Kündigung erklärt. Dies gilt auch dann, wenn der Vorwurf, bestimmte Pflichtverletzungen begangen zu haben, auf Schlußfolgerungen des Arbeitgebers beruht oder wenn der Arbeitgeber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Kündigungsprozeß nicht den vollen Beweis für seine Behauptungen erbringen kann, sondern nur ein begründeter Verdacht nicht auszuschließen ist (Senatsurteil vom 22. September 1974, aaO; Urteil des Siebten Senats vom 20. Januar 1984, aaO).
Eine Verdachtskündigung liegt auch nicht vor, soweit es um die Frage geht, ob bereits die den Verdacht begründenden (erwiesenen) Tatsachen selbst die Kündigung rechtfertigen, etwa weil sie – ohne Rücksicht auf den aus ihnen hergeleiteten Verdacht, der Arbeitnehmer habe eine bestimmte strafbare bzw. pflichtwidrige Handlung begangen – selbst geeignet sind, das Vertrauen des Arbeitgebers in die Redlichkeit bzw. Zuverlässigkeit des Arbeitnehmers zu erschüttern (BAG 16, 72, 80; Senatsurteil vom 20. Oktober 1977, aaO; Urteil des Siebten Senats vom 10. September 1982, aaO).
b) Die Gerichte können eine Kündigung nur dann unter dem Gesichtspunkt der Verdachtskündigung beurteilen, wenn der Arbeitgeber die Kündigung auch, zumindest hilfsweise, gerade auf den Verdacht stützt. Dies kann sowohl vor dem Prozeß, etwa im Kündigungsschreiben, als auch später in den Tatsacheninstanzen geschehen (Urteil des Siebten Senats vom 10. September 1982, aaO und vom 23. März 1984, aaO, zu III 2 c der Gründe).
c) Stützt der Arbeitgeber die Kündigung erst nach ihrem Ausspruch auf den Verdacht einer strafbaren Handlung, so schiebt er damit einen andersartigen Kündigungsgrund nach und unterliegt insoweit insbes. kollektivrechtlichen Beschränkungen. Ist der Betriebsrat nach § 102 Abs. 1 BetrVG vor der Kündigung zu hören, so kann der Verdacht auch bei unverändert gebliebenem Sachverhalt nicht nachgeschoben werden, falls dem Betriebsrat dieser Kündigungsgrund nicht im Rahmen des Anhörungsverfahrens mitgeteilt worden ist. Unterrichtet der Arbeitgeber den Betriebsrat nicht von ihm bekannten Kündigungsgründen, so ist zwar die Kündigung nicht wegen Verstoßes gegen § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam, jedoch kann der Kündigungsgrund im Kündigungsprozeß nicht mehr berücksichtigt werden (BAG 34, 309; 35, 190 = AP Nr. 22 und 23 zu § 102 BetrVG 1972).
aa) Der Verdacht einer strafbaren Handlung stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar, der in dem Tatvorwurf nicht enthalten ist (so zutreffend Urteil des Siebten Senats vom 10. September 1982, aaO). Entgegen der von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vertretenen Ansicht ist in solchen Fällen nicht allein auf die Tatsachen abzustellen, aus denen dann der Verdacht oder der Nachweis einer Straftat hergeleitet wird. Wie der Senat bereits in dem Urteil BAG 16, 72 betont hat, sind nur die Fälle unter dem Begriff der Verdachtskündigung einzureihen, in denen es gerade der Verdacht ist, der das zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauen des Arbeitgebers in die Rechtschaffenheit des Arbeitnehmers zerstören oder auf andere Weise eine unerträgliche Belastung des Arbeitsverhältnisses darstellen kann. Wenn auch bereits die den Verdacht begründenden Tatsachen für sich allein genommen einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung ergeben können, so verbleiben doch zahlreiche Fälle, in denen die den Verdacht begründenden Tatsachen nicht erschöpfend gewürdigt werden können, wenn nicht der Verdacht als solcher hinsichtlich seiner Dringlichkeit und seiner Auswirkung auf das Arbeitsverhältnis mit in die Betrachtung einbezogen wird. Damit unterscheidet sich die Verdachtskündigung aber auch wesentlich von der auf den Vorwurf der nachgewiesenen Tat gestützten Kündigung. Denn in diesem Fall ist für den Kündigungsentschluß maßgebend, daß der Arbeitnehmer die strafbare Handlung tatsächlich begangen hat und dem Arbeitgeber aus diesem Grund die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar erscheint. Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 11. März 1976 – 2 AZR 29/75 – AP Nr. 9 zu § 626 BGB Ausschlußfrist, zu 2 c der Gründe) ist der Arbeitgeber auch nicht gehalten, sogleich wegen Verdachts einer Straftat zu kündigen. Er kann sich entschließen, seinen Arbeitnehmer nur für den Fall zu entlassen, daß sich herausstellen sollte, er habe die strafbare Handlung tatsächlich begangen; er kann sogar den rechtskräftigen Abschluß eines Strafurteils abwarten, falls ihm nur die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit einem überführten Täter unzumutbar erscheint.
bb) Wegen ihrer Eigenart ist die Verdachtskündigung nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch von besonderen Voraussetzungen abhängig. Der Arbeitgeber muß in diesem Fall alles ihm Zumutbare zur Aufklärung des Sachverhalts getan haben. Hierzu gehört, daß er dem verdächtigen Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gibt (BAG 16, 72). Die Anhörung des Arbeitnehmers ist in einem solchen Fall Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung, wie der Senat in dem Urteil vom 11. April 1985 (- 2 AZR 239/84 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt) klargestellt hat.
cc) Wie bereits der Siebte Senat (Urteile vom 10. September 1982, aaO sowie vom 23. März 1984, aaO, zu III 2 d der Gründe) zutreffend angenommen hat, stellt der Verdacht einer strafbaren Handlung auch im Sinne des § 102 BetrVG einen eigenständigen Kündigungsgrund dar, der in der dem Betriebsrat mitgeteilten Behauptung, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, nicht enthalten ist. Die Mitteilung, einem Arbeitnehmer solle wegen Verdachts einer Handlung gekündigt werden, gibt dem Betriebsrat weit stärkeren Anlaß für ein umfassendes Tätigwerden im Anhörungsverfahren als eine Anhörung wegen einer als erwiesen behaupteten Handlung. Letztere wird den Betriebsrat vielfach veranlassen, von einer eigenen Stellungnahme abzusehen und die Klärung des Tatvorwurfs dem Kündigungsschutzverfahren zu überlassen. Gibt der Arbeitgeber dagegen selbst zu erkennen, daß er lediglich einen Verdacht gegen den Arbeitnehmer hegt und ihm bereits dieser Umstand für eine Entlassung ausreichend erscheint, so erhebt der Betriebsrat erfahrungsgemäß eher nachdrückliche Gegenvorstellungen.
2. Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt, daß die Beklagte die Kündigungen nicht mehr auf den Verdacht eines Diebstahls stützen kann.
a) Die Beklagte hat in dem Kündigungsschreiben vom 23. August 1983 die Kündigung darauf gestützt, die Klägerin habe durch ihr unstreitiges Verhalten (Mitnahme und Einstecken des Lippenstifts im Warenhaus und Verlassen des Warenhauses ohne Bezahlung) ihr gegenüber einen groben Vertrauensmißbrauch begangen. Ein Diebstahlsverdacht ist darin weder ausdrücklich noch konkludent geäußert worden. Der Vortrag der Beklagten in erster Instanz enthält ausschließlich den Vorwurf eines vollendeten Diebstahls. Dies ergibt sich aus der zusammenfassenden Würdigung des zuvor geschilderten Verhaltens der Klägerin im Schriftsatz vom 12. Oktober 1983, man müsse von einem vorsätzlichen Tun der Klägerin ausgehen. Unter dem Gesichtspunkt des Diebstahlsverdachts hat erstmals das Arbeitsgericht die Kündigungen – von Amts wegen und damit unzulässigerweise – gewürdigt. Jedoch hat die Beklagte in der Berufungsinstanz zusätzlich ausgeführt, die Kündigungen seien auch unter dem Gesichtspunkt der Verdachtskündigung wirksam. Damit hat sie sich hilfsweise auf diesen Kündigungsgrund berufen.
b) Die Beklagte kann den Diebstahlsverdacht jedoch deshalb nicht mehr zu Rechtfertigungen ihrer Kündigungen nachschieben, weil sie diesen Kündigungsgrund dem Betriebsrat nicht im Rahmen des Anhörungsverfahrens mitgeteilt hat. Sie hat in den beiden an den Betriebsrat gerichteten Schreiben vom 17. Oktober 1983 erklärt, die Klägerin habe einen Lippenstift entwendet, und sich zur Begründung auf den Bericht ihres Betriebsschutzes vom 17. August 1983 berufen, der dem ersten die beabsichtigte außerordentliche Kündigung betreffenden Schreiben beigefügt war. Darin ist von einem festgestellten Kaufhausdiebstahl, begangen durch die als Täterin bezeichnete Klägerin die Rede. Damit hatte die Beklagte die Klägerin gegenüber dem Betriebsrat nicht nur verdächtigt, sondern beschuldigt, einen Diebstahl begangen zu haben. Dafür daß sie die Kündigungen zumindestens hilfsweise auch auf den bloßen Verdacht eines Diebstahls stützen wolle, findet sich in den vorbezeichneten Schriftstücken kein Anhaltspunkt. Die Beklagte war deshalb gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG gehindert, den neuen Kündigungsgrund des Diebstahlsverdachts im vorliegenden Verfahren zur Rechtfertigung ihrer Kündigungen nachzuschieben.
III. Das Berufungsgericht hat schließlich im Ergebnis zu Recht angenommen, daß auch das tatsächliche Verhalten der Klägerin die Kündigungen nicht rechtfertigt.
1. Das Berufungsgericht hat hierzu ausgeführt, reiche der Verdacht eines Diebstahls zur Rechtfertigung der Kündigungen nicht aus, so könnte gleichwohl eine ordentliche Kündigung sozial gerechtfertigt sein, wenn das tatsächliche Verhalten des Arbeitnehmers Zweifel an seiner Zuverlässigkeit aufkommen lasse. Der beiderseitige Parteivortrag lasse jedoch über die Vorgänge um die Wegnahme des Lippenstifts hinaus einen auf den Arbeitsplatz der Klägerin zu beziehenden Zuverlässigkeitsmangel nicht erkennen. Die Beklagte habe sich hierauf auch nicht berufen. Sie hätte weitere Tatsachen vortragen müssen, die auf eine solche Unzuverlässigkeit der Klägerin hindeuteten.
2. Auch diese Würdigung ist frei von Rechtsfehlern.
a) Ist einem Arbeitnehmer eine Straftat, der er sich aufgrund eigenen Verhaltens verdächtig gemacht hat, nicht nachzuweisen, muß bereits bei der Prüfung, ob ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung vorliegt, zunächst auf das vom Arbeitgeber zu beweisende tatsächliche Verhalten abgestellt werden und nicht auf den durch dieses Verhalten vermittelten Verdacht einer strafbaren Handlung. Die den Verdacht begründenden Tatsachen und ihre Auswirkungen auf den Betrieb können bereits für sich genommen einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung abgeben oder zumindest geeignet sein, eine ordentliche Kündigung sozial zu rechtfertigen (Senatsurteil vom 20. Oktober 1977; Urteil des Siebten Senats vom 10. September 1982, jeweils aaO).
b) Das Berufungsgericht hat jedenfalls im Ergebnis zu Recht angenommen, daß das unstreitige tatsächliche Verhalten der Klägerin selbst eine ordentliche Kündigung nicht sozial rechtfertigt.
Wie ausgeführt, hatte die Beklagte die Kündigungen im Kündigungsschreiben auch zunächst auf das unstreitige Verhalten der Klägerin gestützt und darin einen groben Vertrauensmißbrauch gesehen, der ihr eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur für die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar mache. Nach dem objektiv feststehenden Sachverhalt hat die Klägerin in der Kosmetikabteilung des Warenhauses einen Lippenstift genommen, diesen auf dem Weg in die Elektroabteilung, wo sie einen weiteren Gegenstand zu kaufen beabsichtigte, in die Rocktasche gesteckt und nach dem ergebnislos gebliebenen Versuch, dort Ersatzzahnbürsten zu bekommen, das Warenhaus verlassen, ohne den Lippenstift zu bezahlen. Danach kann der Klägerin im Hinblick auf den Ausschluß des Diebstahlsverdachts und die zur subjektiven Tatseite vom Berufungsgericht angestellten Überlegungen lediglich der Vorwurf gemacht werden, sie habe gedankenlos und nachlässig gehandelt. Wenn das Berufungsgericht in diesem einmaligen Versehen keinen Grund gesehen hat, der eine ordentliche Kündigung als billigenswert und angemessen – und damit noch weniger eine außerordentliche Kündigung als wirksam – erscheinen läßt, so ist dies revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Bei der gebotenen Prüfung, in welchem Umfang ein solches Verhalten des Arbeitnehmers konkrete Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis hat, ist in Fällen der vorliegenden Art zu berücksichtigen, daß der Arbeitnehmer zwar die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebende Pflicht, auch außerhalb seines Beschäftigungsbetriebes das zum Unternehmen seines Arbeitgebers gehörende Vermögen nicht zu schädigen, fahrlässig verletzt und durch die Einräumung eines Personalrabatts für Einkäufe in den Warenhäusern des Arbeitgebers noch zusätzlich eine unmittelbar auf dem Arbeitsvertrag beruhende Beziehung des Arbeitnehmers auch zu diesen Betrieben des Arbeitgebers hergestellt wird. Andererseits verletzt der Arbeitnehmer keine unmittelbar auf den betreffenden Gegenstand bezogene Obhutspflicht. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin als in der Debitorenbuchhaltung beschäftigte Sachbearbeiterin in ihrem Beschäftigungsbetrieb keine einem Kassierer oder nur einem Verkäufer vergleichbare Vertrauensstellung bekleidet, so daß ihr Verhalten keine berechtigten Zweifel an ihrer Eignung für die vertraglich geschuldete Tätigkeit aufkommen lassen kann (vgl. dazu Senatsurteil vom 20. September 1984, aaO, zu I 4 der Gründe).
 
 
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Vorinstanzen:
LAG Nürnberg,  Urteil vom 30.04.1985, Sa 48/84
ArbG Nürnberg,  Urteil vom 06.12.1983, Ca 4749/83